Wozu denn über diese Leute einen Film?, 1980/89, Thomas Heise

Thomas Heise
Das Gesamtwerk

10. November bis 3. Dezember 2014


Der deutsche Regisseur und Autor Thomas Heise ist einer der bedeutendsten Dokumentarfilmer der Gegenwart. Seit Beginn der 1990er Jahre hat er in beharrlicher Unabhängigkeit ein singuläres Œuvre realisiert, das sich zu einem Gutteil dem gesellschaftlichen Umbruch im „wiedervereinigten“ Deutschland widmet: Heises aufregende Chronik der Ära nach dem Mauerfall bietet rigoros andere, komplexere Perspektiven an als der zeitgeschichtliche und feuilletonistische Mainstream.

1955 in Ostberlin geboren, studierte Heise an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg, wo bereits erste, hellsichtige Dokumentarfilme entstanden – und umgehend verboten wurden. Heise brach sein Filmstudium ab, realisierte jedoch mehrere „Filme ohne Bilder“: radikal gesellschaftsbezogene O-Ton-Radiofeatures. Zahlreiche Aspekte dieser 80er-Jahre-Alltagscollagen wurden prägend für Heises späteres filmisches Werk: die beziehungsreiche Montage, das Interesse für den Alltag der Marginalisierten, die intensive Beschäftigung mit der Lebenswelt Jugendlicher, das Verhältnis von politischer und privater Geschichte.


Nach dem Zusammenbruch der DDR ist Heise einer der wenigen seiner Generation, der sofort im Kino reüssiert. Mit seinen ersten Langfilmen Eisenzeit (1991) und STAU – Jetzt geht’s los (1992), einem Porträt rechtsradikaler Jugendlicher in Halle, wird er bekannt. Seine vorurteilslose Beobachtung und zugewandte Gesprächsführung, etwa auch mit Skinheads und ihren Familien, entfachen eine weit über die Filmkritik hinaus reichende Debatte über „zulässige“ Darstellungsformen. Heise beantwortet diese Fragestellung, indem er STAU zu einem klugen filmischen Langzeitprojekt ausbaut: Acht Jahre später, in Neustadt, sucht er damalige Protagonisten wieder auf; und nochmals sieben Jahre später in Kinder. Wie die Zeit vergeht. Deutlich wird über die Jahrzehnte, wie sich das rechte Denken in der Mitte der Gesellschaft festsetzt.


„Ich bin allen Leuten gegenüber, mit denen ich drehe, loyal“, sagt Heise und definiert ein Arbeitsethos, das er auch dann aufrecht hält, wenn er sich, als „Kind des Sozialismus“, explizit mit dem eigenen und dem Erbe der DDR befasst: Sowohl seine Gesprächsfilme Barluschke (1997) und Mein Bruder (2005) als auch die verrätselte biografische Skizze Vaterland (2002) sind zugleich als persönliche Porträts und als politische Allegorien lesbar.

 
Heise ist aber nicht nur ein filmender Analytiker ersten Ranges, sondern auch ein Mann des Theaters: immer wieder inszeniert er für die Bühne, zumeist Stücke von Bert Brecht und Heiner Müller. In seinen Filmen hinterlässt dies bedeutsame Spuren: Die kunstvollen Text-Collagen sind ebenso Merkmal des Heise-Kinos wie die kontinuierliche Thematisierung von Sprache und Sprachverlust.


Im Grunde, sagt Heise, sei sein Werk ein „Speicher von Erfahrungen und Geschichte“. In seinem mächtigen Essayfilm Material (2009) führt er diese Idee grandios vor Augen, gleichsam als Verdichtung des Gesamtwerks: Wie ein Archäologe legt Heise jene Spuren frei, die zugleich Bruchstücke eines historischen Panoramas sind als auch Zeugnisse eines vielschichtigen Bewusstseinsstroms.


Thomas Heise, der seit 2013 auch als Professor an der Akademie der bildenden Künste Wien tätig ist, wird bei zahlreichen Vorstellungen anwesend sein. Zum Auftakt der Schau präsentiert er sein neuestes Werk: Städtebewohner.


Eine Veranstaltung des Österreichischen Filmmuseums in Kooperation mit Navigator Film, der Filmakademie und der Vienna Art Week.

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