Ukigumo, 1955, Naruse Mikio

Naruse Mikio
Der Geschmack des Lebens

9. Februar bis 8. März 2007
 
Obwohl Naruse Mikio (1905-69) seit langem als einer der Giganten des Kinos akzeptiert ist, wird sein Schaffen, wenn auch immer seltener, mit einer gewissen Vorsicht behandelt: Man ist begeistert, aber nur wenige schwingen sich zu jener haltlosen Euphorie auf, die etwa Ozu oder Mizoguchi gilt – den Zeitgenossen, mit denen Naruse oft verglichen wird. Dies hat auch mit der geringen Präsenz seiner Filme im Westen zu tun: Naruse-Retrospektiven sind in unseren Breiten ein seltenes Gut. Das Filmmuseum zeigt nun, zum ersten Mal seit Anfang der 80er Jahre, eine umfassende Auswahl seines Werks.
 
Wie Ozu (mit dem er Anfang der 20er Jahre im Shôchiku-Studio begann) ist Naruse ein Meister des shomingeki, des Melodrams der „kleinen Leute"; und wie bei Mizoguchi erzählen seine zahlreichen Hauptwerke vom traurigen oder tragischen Schicksal der Frauen – von Kimi to wakarete (Getrennt von Dir, 1933) und Otome gokoro sannin shimai (Drei Schwestern mit reinem Herzen, 1935) über Meshi (Das Mahl, 1951) und Ukigumo (Treibende Wolken, 1955) bis hin zu Onna ga kaidan o agaru toki (Wenn eine Frau die Treppe hinaufsteigt, 1960) und Midaregumo (Zerrissene Wolken, 1967), womit nur sechs der vielen Spitzen im Naruse-Gebirge benannt wären.
 
Anders als die beiden Kollegen versuchte sich Naruse jedoch nie als großer Künstler zu positionieren: Er sah sich als angestellter Handwerker, der eine bestimmte Art von Arbeit, ein bestimmtes Genre hervorragend beherrschte, aber auch andere Aufträge auf ganz eigene Weise umzusetzen verstand – betörende Komödien ebenso wie kompakte Historiendramen.
 
Filme nach Maß machte er bis ans Ende seiner Laufbahn. Ursprünglich war er nur deshalb beim Film gelandet, weil er dringend Arbeit suchte: Der Vater war gestorben, die ganze Familie musste arbeiten, Naruse war gerade 15. Er blieb immer ein Kind des niederen Mittelstandes, nah am Abgrund zur sozialen Verelendung. Darüber wollte er auch später, als er Geld hatte, nie hinweg.
 
Naruse kultivierte keine offensichtlichen Markenzeichen (wie etwa Mizoguchi mit seinen langen Einstellungen). Er hatte eine klare Haltung und ein hochkomplexes ästhetisches System, das sich den Geschichten anpasste wie Wasser. Seine Filme fließen: Einstellung für Einstellung ein neuer Blick, der Aufnahmewinkel wechselt, näher hin oder weiter zurück; Konfrontationen – also Schuss und Gegenschuss – sind selten. Naruse zeichnet exakt nach, wie sich die Kräfte- und Gewaltverhältnisse der Personen zueinander verschieben.
 
So baut sich ein Rhythmus auf, in dem große und kleine Ereignisse die gleiche Bedeutung erlangen. Man kann sich lösen von dem einen Handlungsstrang, man geht auf in diesem Fließen; und erst, wenn der Film zu Ende ist, weiß man, wovon er eigentlich erzählt hat: Erst das Ende, der Tod, stiftet Sinn, macht die Strukturen eines Lebens sichtbar, erzählbar. In Okâ-san (Mutter, 1952) erlaubt sich Naruse einen philosophischen Scherz mit seiner Ästhetik: Mitten in den Film setzt er ein „Ende" – seine Charaktere waren im Kino. Genauso gut hätte es das Ende dieses Films sein können, es hätte gepasst.
 
Zuletzt ist Naruse ein völlig säkularer Filmemacher, in dessen Kino es nicht um eine distanzierte Heiterkeit geht oder um die Akzeptanz eines wesenhaft leiderfüllten Lebens. Es geht um Probleme, die dem Gros des Publikums näher sein dürften als die „Seele", um Antworten auf konkrete Fragen: „Wie viel kostet der Reis?"; „Wie bezahle ich meine Miete? Habe ich vielleicht doch noch einen Kimono, den ich zum Pfandleiher bringen oder gleich verkaufen kann?"; „Muss ich mein Kind früher aus der Schule nehmen, damit es arbeiten gehen und die Familie miternähren kann? Sollte ich es nicht lieber Besserbetuchten zur Adoption überlassen, damit es eine Chance auf Bildung hat?"; „Wäre es nicht sinnvoll, mich von einem Mann aushalten zu lassen, damit ich weiterkomme?"; „Sollte ich mich nicht scheiden lassen, und warum habe ich überhaupt geheiratet?"; „Warum wurde ich überhaupt geboren?"
 
In Naruses Filmen sprechen Menschen über Geld, wie man das im Leben selten tut (aber häufig will), sie sprechen über Leben als Ware, sie behandeln andere wie sich selbst, und sie wünschen sich so sehr, dass es anders wäre. Naruse erzählt davon, wie die meisten Menschen sind, nämlich arm, bedürftig, darin oft schamlos, im Guten wie im Schlechten asozial.
 
In Inazuma (Blitz, 1952) meint eine Frau, dass doch nur die Toten glücklich seien, worauf eine andere entgegnet, dass man sterben müsse, um herauszufinden, ob das auch stimmt. Naruse Mikio inszenierte 89 Filme, 32 davon sind nun zu sehen. Er realisierte ein Kino, das wie das Leben schmeckt. In gewissen Augenblicken weiß man, dass er der größte Filmemacher aller Zeiten war.
 
Ein gemeinsames Projekt des Österreichischen Filmmuseums mit der Japan Foundation Tôkyô, dem Japanischen Kulturinstitut Köln, dem National Film Center / National Museum of Modern Art Tôkyô und dem Filmmuseum München.