Titash ekti nadir naam (Der Fluss Titash), 1973, Ritwik Ghatak

Filme von Ritwik Ghatak

29. Jänner bis 12. Februar 2015
 
„Im indischen Film hat es keiner geschafft, ihn an Heftigkeit und epischer Schönheit der Bilder zu übertreffen“, urteilte sein Kollege Satyajit Ray über Ritwik Ghatak (1925–1976), der erst posthum als einer der größten Filmemacher Asiens erkannt wurde.
 
Während Ray selbst – als Person wie als Künstler – die Erwartungen des Westens an Indiens Kinokunst perfekt zu erfüllen schien und als dessen „Vorzeigesohn“ (Jacob Levitch) fungierte, bot das elektrisierend zerrissene, experimentierfreudige Werk des von Selbstzweifeln geplagten „Problemkinds“ Ghatak keine wohligen Sicherheiten. Sein Spitzname war „brennender Tiger“, und so lodernd, Grenzen sprengend war auch sein Kino. Der von Ray beschworene Aspekt der „epischen Schönheit“ kann durchaus auch im Sinne Brechts verstanden werden, den Ghatak ins Bengalische übersetzte. „Für all jene, die das Glück hatten, einen seiner Filme zu sehen, zählt Ghatak zu jenen seltenen Künstlern, die durch ihre Art, die Dinge zu zeigen, unsere Vorstellung von der Welt verändern“, so der französische Autor Hubert Niogret.
 
Als Sohn eines ostbengalischen Magistratsbeamten verbringt Ghatak eine harmonische Kindheit im Schoß der Familie. Die Teilung Bengalens 1947 wird zum einschneidenden Erlebnis: Wie Abermillionen flieht Ghataks Familie aus Ostpakistan (heute: Bangladesch) ins indische Kalkutta, wo er sich bald in der kommunistischen Partei und beim Theater engagiert. Der kulturelle Brennpunkt ist die „Indian People’s Theatre Association“ (IPTA), zu deren Umfeld auch Satyajit Ray, Mrinal Sen und viele spätere Ghatak-Mitarbeiter gehören. Nach internen IPTA-Streitigkeiten (er wird als Trotzkist abgestempelt) sieht Ghatak im Kino eine neue Chance – auch auf mehr Publikum. Sein Filmdebüt Nagarik (1953) wird jedoch erst nach seinem Tod gezeigt. Wäre dieser Film vor seinem eigenen Debüt Pather Panchali herausgekommen, meint Ray, hätte man Indiens Kino mit Ghatak entdeckt.

 
Ritwik Ghataks Ajantrik (Der Vagabund) läuft 1958 am Rande des Festivals in Venedig, und allein Georges Sadoul feiert den „jungen, außergewöhnlich begabten Filmemacher“. Mit dem Hauptwerk Meghe dhaka tara (Der verborgene Stern) folgt 1960 ein einziger Publikumserfolg, bevor Ghatak sich im eigenen Feuer verzehrt: Bis er 51-jährig stirbt, bricht der von Tuberkulose, Tumoren und Alkohol zerfressene Filmemacher mehr Projekte ab, als er vollendet. Mit autobiografischer Intensität erzählt er vom Überleben, der Verteidigung einer menschenwürdigen Existenz im Angesicht der Verzweiflung: Im unfassbaren Abschiedswerk Jukti, takko aar gappo (Einsicht, Streit und eine Geschichte) inszeniert sich der gezeichnete Ghatak selbst als Alkoholiker; Komal gandhar (e-Moll) beschwört die IPTA-Zeit, Der Fluss Titash die Erinnerung an die Deltalandschaften seiner Jugend.
 
Flüsse – seine größten Epen, Subarnarekha und Titash, tragen deren Namen im Titel – und Flüchtlinge sind Zentralmotive für Ghataks Geschichte(n) eines so nicht mehr existierenden Staates. Dessen politische Zerrissenheit prägt Ghataks Ästhetik: Tradition und Moderne sowie melodramatische, realistische und revolutionäre Inszenierungsideen befeuern einander auf verdreifachter Erzählebene – im individuellen Drama spiegeln sich größere soziale Allegorien und mythische Abbilder. Ghatak-Heldinnen wie Nita in Der verborgene Stern opfern sich in nationaler Notlage als Ernährerin für ihre Familie: Mother India. Zugleich sind sie Wiedergängerinnen von Göttinnen: Wie die alten Mythen schildert Ghatak den Kreislauf von Zerstörung und Wiedergeburt.
 
Die mysteriöse, oft nervöse Kraft und Komplexität von Ghataks Kunst verdankt sich der kühnen Verzahnung widerstreitender Ideen. Über gewaltige Bilder setzt er erstaunliche Tonspuren: Peitschenschläge zu Nitas unvergesslichem Abstieg, Schüsse zur Nachricht von Ghandis Tod in Subarnarekha. Musik dient als Brücke – auch zwischen der konkreten Wirklichkeit und der erstrebten Universalität, im Mitgefühl für die Figuren, in der sozialen und allegorischen Ambition und in der maßlosen Leidenschaft, mit der Ghatak sich aufreibt: „Ein Mensch stirbt, die Menschheit lebt weiter.“ Die Menschheit hat erst nach Ghataks Tod entdeckt, was er ihr gegeben hat: eine einzigartige Vision von Kino, tosend wie die großen Flüsse, die es durchströmen.
 
Das Filmmuseum zeigt sechs der acht Filme, die Ritwik Ghatak vollendet hat. Zwei seiner Werke –
Nagarik und Bari theke paliye (1959) – sind derzeit nicht im Original zugänglich.