Martin Scorsese am Set von Alice Doesn't Live Here Anymore

Martin Scorsese

1. September bis 20. Oktober 2022


Kein lebender US-amerikanischer Filmemacher kann sich in seiner Bedeutung mit Martin Scorsese messen. Zum einen entwickelte er als Regisseur über sechs Jahrzehnte hinweg einen originären, vielschichtigen und enorm kraftvollen Stil, dessen Einfluss auf das Weltkino unschätzbar ist: Seine gefeierten Hauptwerke wie Taxi Driver, Raging Bull, Goodfellas oder Casino zählen längst zu den großen Klassikern des Hollywoodkinos. Zum anderen ist Scorsese als begeisterter Cinephiler zu einer internationalen Galionsfigur für die Beschäftigung mit und Erhaltung von Filmgeschichte geworden – nicht zuletzt als Ehrenpräsident des Österreichischen Filmmuseums, das ihm zum 80. Geburtstag am 17. November 2022 eine umfassende Retrospektive widmet.
 
Scorseses flammende Liebe zum Kino übersetzt sich direkt in die Form seiner Produktionen: Seine kinetischen und sinnlichen filmischen Innovationen entspringen auch dem eifrigen Studium seiner Vorbilder. "My whole life has been movies and religion", so der 1942 in New York geborene, in katholisch-italoamerikanischem Umfeld aufgewachsene Scorsese. Als junger Mann ging er aufs Priesterseminar, geworden ist er dann doch Filmemacher, aber die Idee der Spiritualität pulsiert durch sein Schaffen, augenscheinlich kulminierend in seinen außergewöhnlichen Filmen über Jesus (The Last Temptation of Christ), den Dalai Lama (Kundun) oder zuletzt über Jesuiten im Japan des 17. Jahrhunderts (Silence).
 
Aber auch Scorseses andere Hauptfiguren sind auf der Suche nach Erlösung, fast ausnahmslos Getriebene, Außenseiter und Schmerzensmänner, gleichermaßen ikonisch und gebrochen – vom neurotischen Macho in seinem Spielfilmdebüt Who’s That Knocking at My Door über die getarnten Spitzel in The Departed, der ihm 2007 endlich den Oscar für die beste Regie einbrachte, bis zu den ein ganzes Lebensalter durchlaufenden Kriminellen in seinem jüngsten Epos The Irishman. Scorseses Protagonisten erfüllen ihre Mission – um jeden Preis: der amoklaufende Vietnam-Veteran Travis Bickle in Taxi Driver, der Möchtegern-Komiker Rupert Pupkin in The King of Comedy, der Boxweltmeister Jake La Motta in Raging Bull oder der zweifelnde Kleingangster Charlie in Mean Streets, wo Scorsese zum ersten Mal filmisch in die Welt jener Mafiosi eintauchte, die ihn als Kind in Little Italy fasziniert hatten.
 
In Mean Streets gehen die psychologisch reiche Schilderung des Gewissenskonflikts und die atmosphärisch detaillierte Konstruktion des Milieus bereits Hand in Hand mit energischer Virtuosität: Die Widersprüche der Charaktere reizen Scorsese ebenso wie die sozialen; seine Filme reiben sich und wachsen daran, sind packend, physisch, dabei paradox reflexiv, erzählen zugleich vom Innen und Außen, von der Welt und vom Kino. Schon als kränklicher Bub hat Scorsese im Fernsehen die Genrefilme der Hollywoodstudios zusammen mit dem neorealistisch geprägten Kino Italiens aufgesaugt, unter diesen Einflüssen zeichnet sich bereits in den ersten Kurzfilmen sein spezielles audiovisuelles Genie ab: der intuitive Umgang mit Musik, die aggressive Intensität der Inszenierung und die Gabe für griffige Metaphorik. Scorseses fünfminütiger "Vietnam­kommentar" The Big Shave zeigt nur einen jungen Mann, der sich das Gesicht zerschneidet (zu einer fröhlichen Swingnummer: Gewalt und Komik schließen sich bei Scorsese keineswegs aus, das belegen gerade die Komödien). 35 Jahre später umschreibt im gewaltigen Gründerzeitepos Gangs of New York eine atemberaubende Kamerafahrt die große Fehlstelle des Films, den US-Bürgerkrieg, der im Landesinneren tobt: Soldaten werden auf ein Schiff verfrachtet, während Särge zurückkommen.
 
Scorseses Kino ist auch ein persönlicher Spiegel amerikanischer (Film-)Geschichte: Die subtile Schilderung des soziokulturellen Gefängnisses von New Yorks Upperclass des 19. Jahrhunderts (im meisterhaften Melodram The Age of Innocence) steht in seiner Filmografie neben dem angemessen ambivalenten Abgesang auf den American Dream im Las Vegas der 1970er und 80er Jahre (im Opus magnum Casino) und dessen perverser Wiederauferstehung als betrügerische Hochfinanz-Farce im atemberaubenden Alterswerk The Wolf of Wall Street, dessen explosive Energie die Alterslosigkeit von Scorseses Schaffen belegt.
 
Der persönliche Zugang prägt auch die Dokumentarfilme, die Scorsese zwischen seinen großen Erzählungen dreht. Neben der Gesamtschau seiner Spielfilme zeigen wir drei ausgewählte Beispiele seines dokumentarischen Schaffens, die auf 35mm-Kopien zugänglich sind und Scorseses Liebe zur populären Musik untermauern: Große Konzertfilme mit The Band (The Last Waltz) und den Rolling Stones (Shine a Light) sowie eine Spurensuche zu den Wurzeln des Blues-Idioms (Feel Like Going Home). Die Musik liefert stets den Herzschlag für Scorseses Filme, dem Zusammenspiel von Bild und Ton gewinnt er immer neue Facetten ab. So erweist er in New York, New York dem klassischen Musical seine Reverenz, durchmisst in Goodfellas emblematisch die Zeit vom perlenden Popsound der Fifties zur psychedelischen Paranoia der Seventies, bevor Sid Vicious mit My Way den Punk-Schlussstrich zieht, oder orchestriert Raging Bull auch als große Oper, vom Trommelrhythmus der von Tierfauchen begleiteten Faustschläge bis hin zu Schreiduell-Arien in Duetten und Terzetten.
 
Langjährige fruchtbare Partnerschaften (am prominentesten wohl mit Schauspielstar Robert De Niro und Cutterin Thelma Schoonmaker) haben Scorseses exzeptionelle Laufbahn begleitet. Doch seine Handschrift ist letztlich so unverwechselbar wie seine Obsessionen – und so steckt auch ein Selbstporträt im zwanghaften Howard Hughes, den Scorsese 2004 in The Aviator entwirft. So wie dessen Flugzeuge oder die Autos von Chevrolet, wie die musikalische Poetik Bob Dylans oder die Kunst von Andy Warhol ist die "Scorsese Machine" zu einem essenziellen Produkt der US-Kulturgeschichte geworden. (Christoph Huber)
 
Eine Kooperation im Rahmen des Austrian-American Partnership Fund der US-Botschaft in Österreich