L'uccello dalle piume di cristallo (1970, Dario Argento) Courtesy of Archiv Harald Dolezal

Giallo
Italiens Thriller-Moderne

30. August bis 24. Oktober 2019

In den späten 1960ern und 1970ern löste der Giallo all'italiana – eine besondere Spielart des Krimis – den Spaghettiwestern als Italiens Kino-Exportschlager ab und trat seinen internationalen Siegeszug an. Zum einen lag das am speziellen Giallo-Mix aus Psychothriller, Horror und Erotik, in dem sich die Entgrenzungs-Träume und die Ängste der Post-68er-Ära wie in einem Angstlust-Spiegelkabinett in Reinform manifestierten. Zum anderen vollzog dieses Subgenre eine Entgrenzung im Ästhetischen, die den revolutionären Aufbruch der filmischen Moderne der 1960er nahtlos in das kommerzielle Unterhaltungskino überführte.

Mit seinen ostentativ ausgestellten virtuosen Inszenierungseinfällen, die meist Vorrang gegenüber den Notwendigkeiten der konventionellen Erzählung hatten, schmuggelte der Giallo Elemente der filmischen Avantgarde in die großen Lichtspielhäuser und Bahnhofskinos. Am Schnittpunkt der Popkultur seiner Zeit und zwischen den Polen Kunst und Exploitation wurde er zum idealen Gefäß, um die psychologischen, sexuellen und sozialen Spannungen der Ära in wilde Suspense-Alpträume umzudeuten – aber auch in elegante, atmosphärische Zeitbilder, die sich parallel zur künstlerischen Prestigeproduktion entwickelten (und beim Personal häufig überlappten).

Dieser Grenzgang nahm – damals noch ohne Schubladendenken – ein heutiges Genrekino vorweg, das sich zusehends am Spagat zwischen anspruchsvoller Festivalkunst und kommerziellen Prämissen versucht: Nicht nur Erfolgsregisseure wie Quentin Tarantino oder Nicolas Winding Refn beziehen sich in ihren Filmen und in ihren Äußerungen immer wieder auf den Giallo als Schlüsselerlebnis und prägenden Einfluss. So ist das Subgenre auch zu einer kultverdächtigen Marke geworden, die in punkto Hype nur vom Film noir übertroffen wird ("Neo-Giallo" ist ein ähnlich angesagtes Phänomen wie vor einigen Dekaden "Neo-Noir".)

In beiden Fällen entstammt die Bezeichnung der Literatur: Wurde der Begriff "Film noir" von der französischen Krimi-Edition "Série noire" inspiriert, so verdankt sich die Marke "Giallo" ("gelb") den gelben Einbänden der italienischen Romanhefte, in denen ab den späten 1920ern Übersetzungen von Autoren wie Edgar Wallace oder Agatha Christie publiziert wurden. (In Italien wird das Wort daher als allgemeines Äquivalent zum Krimi benutzt; was international als Giallo firmiert, heißt dort genauer Giallo all'italiana.) Und so wie der Begriff Film noir zwar mit dem Krimi assoziiert wird, aber eigentlich einen Stil und eine Stimmung beschreibt, in der die Unruhe durch vom Weltkrieg ausgelöste gesellschaftliche Umwälzungen greifbar wird, trifft das auch auf den Giallo all‘italiana zu, der wesentlich mehr bietet als spektakuläre und spekulative Thriller voller Gewalt und Sex.

Künstlerisch fasziniert am Giallo die Weise, wie sich ein unbedingter, oft exzessiver Wille zum Stil (bis hin zum Cinéma pur) mit narrativem Wagemut verbindet, um die Erschütterungen einer Welt nach der (gescheiterten) politischen und sexuellen Revolution zu beschreiben. Erzählungen werden elliptisch, delirierend, die (Farb-)Gestaltung wird rauschhaft, der Ton artifiziell, geradezu musikalisch. Reaktion und Fortschrittlichkeit, progressive Gesellschaftskritik und konservative Ängste verkeilen und verstricken sich in kühn orchestrierten Bildern ineinander. Der Giallo ist ein Kind der italienischen Wirtschaftswunderzeit und erzählt auf symbolischer Ebene viel von den Spannungen der Epoche, inklusive der Weise, in der exzessive Gewalt die bürgerliche (katholische) Ordnung unterbricht und zerstört. Betrachtet man ihn als Spiegel der Fantasien und Ängste seiner Zeit, wird vieles, das auf den ersten Blick klar umrissen und klischeehaft aussieht, ambivalenter oder zumindest verhandelbar. So kündet zum Beispiel die grausame Weise, in der Gewalt an Frauen in manchen der Filme mit Sexualisierung einhergeht, von jener Bedrohung, der sich das traditionelle italienische Männlichkeitsbild nach 1968 ausgesetzt sah. In anderen Beispielen erweist sich der Machismo überhaupt als der Weiblichkeit unterlegen, generell lösen sich die althergebrachten Geschlechterrollen sukzessive auf – auch in seiner queerness ist der Giallo ein Zeitbild.

Unsere Retrospektive ist der erste Versuch weltweit, das Phänomen Giallo im großen Maßstab – mit über 40 ausgewählten Filmen, viele in seltenen Kopien – zu erforschen. Die Reihe beginnt bei den (meist übergangenen) Vorläufern: eher komödiantische Manifestationen des italienischen Krimi-Fiebers der 1930er und 1940er, der Aufbruch in die Moderne durch Schlüsselwerke wie Pietro Germis Un maledetto imbroglio (1959) und der Einfluss der Italo-Schauerromantik, vor allem ihrer ersten Farbfilme, etwa Riccardo Fredas Il spettro (1963). Im selben Jahr hob der Ausnahme-Stilist Mario Bava zum Doppelschlag an, der die eigentliche Giallo-Welle begründete: La ragazza che sapeva troppo, gefolgt von Sei donne per l'assassino (1964), etablierten Themen-, Figuren- und Stilarsenal des Subgenres. Neben Hitchcock und Horror-Thrillern wie Clouzots Les diaboliques (1955) erwies sich der Erfolg der deutschen Edgar-Wallace-Krimis als wesentlicher Impuls: Dario Argentos Debüt L'uccello dalle piume di cristallo (1970), deutsch koproduziert und dort als Wallace-Film vermarktet, löste das Giallo-Fieber der folgenden Dekade aus.

Argento und Bava sind längst als innovative Regie-Auteurs anerkannt (und in unserer Schau entsprechend stark vertreten), aber die Aufbruchsstimmung im Giallo hat souveräne Handwerker, verdiente Veteranen und faszinierende Randfiguren ebenso zu Großtaten angespornt. Anerkannte Größen wie Elio Petri und visionäre Außenseiter wie Giulio Questi nutzten den Stil, um psychologische und soziale Abgründe zu erforschen, Profis wie Sergio Martino oder Paolo Cavara wurden zu inszenatorischen Höchstleistungen inspiriert, Einsteiger wie Aldo Lado und Luciano Ercoli erhoben "il thrilling" zur Kunst mit soziopsychologischem Interesse und Maestri wie Dino Risi oder Lugi Comencini näherten sich dem Subgenre über klassischere Formate.

Die Ruhmesgalerie des Giallo ist auch eine der handwerklichen Allrounder-Exzellenz des italienischen Filmgeschäfts: Ob Autoren wie Ernesto Gastaldi, Kameramänner wie Luigi Kuveiller oder Komponisten wie Ennio Morricone und Stelvio Cipriani – sie wurden im Giallo ebenso entfesselt wie zahllose Schauspielstars und -starlets, darunter auch internationale Gäste wie Jean-Louis Trintignant oder Ingrid Thulin. Nicht nur in der Koproduktion, sondern auch in den Schauplätzen regierte ein kosmopolitischer Zug: Die fast immer urbanen Handlungsorte sind nicht nur Rom oder Mailand, sondern auch London, Prag, Athen – und Wien, dem wir ein spezielles double feature widmen. (Ein anderer Nebeneffekt der Produktionspraxis ist die Nachsynchronisation, auch fast aller italienischer Originalfassungen: Teils sind Sprachversionen eines Koproduktionslandes zu bevorzugen, in Einzelfällen haben wir, auch aufgrund der Kopienlage, anderen Synchronfassungen den Vorzug gegeben.)

In den 1970ern war der Giallo am Höhepunkt als Instrument für die Reflexion von Gesellschaft, Psyche, Erotik, Gewalt sowie des Filmischen an sich: Er konnte Ausdruck eines Kino-Weltbilds sein (wie In Argentos Kronjuwel Profondo rosso) oder kommerzieller Vorwand für politische Pop-Art-Intervention (wie Questis La morte ha fatto l'uovo oder Cavaras E tanta paura), ein Kunstfilm im populären Gewand (La donna del lago oder Il profumo della signora in nero) und sogar Trash als Experimentalkino (Nelle pieghe della carne) und pure Frechheit (Nude per l'assassino). Er infizierte Genres wie die Komödie (Lo strangolatore di Vienna), den Politthriller (La polizia chiede aiuto), die Phantastik (La casa dalle finestre che ridono) und selbstverständlich alle anderen Krimi-Spielarten. Doch mit dem Niedergang des Kinos als Volkskunst in den 1980ern verklang auch die originale Giallo-Welle: Eine Coda präsentiert die letzten bedeutenden Ausläufer, inszeniert vor allem von Koryphäen wie Argento und Lucio Fulci, dessen Un gatto nel cervello (1990) die selbstreflexiven Tendenzen komödiantisch auf die Spitze treibt: Die Wiederkehr der Tragödie als Farce. (Christoph Huber)
 
Die Retrospektive findet in Kooperation mit /slash Filmfestival statt. Mit besonderem Dank an unseren Hauptpartner Cineteca Nazionale und das Istituto Italiano di Cultura di Vienna. Der italienische Genre-Experte Roberto Curti wird die Schau mit einem Vortrag und Einführungen begleiten.
Zusätzliche Materialien