Up-Serie: 28 Up, 1984, Michael Apted (Foto: Park Circus)

Lebensverläufe
Langzeitbeobachtungen aus sieben Jahrzehnten

1. März bis 26. April 2024

Jene dokumentarische Form, die unter Langzeitbeobachtung firmiert, unterhält eine ganz besondere Beziehung zur Zeitlichkeit und Prozessualität des Lebens. Dies unterscheidet sie beispielsweise von einer biografischen Erzählung oder einer audiovisuellen Chronik, die – fest in einer Gegenwart verankert – zusammenfasst. Wenn wir hingegen ein paar Stunden mit den über Jahrzehnte aufgenommenen filmischen Zeitfragmenten zubringen, werden wir Zeug*innen davon, wie Kinder allzu schnell erwachsen werden, wie Erwachsene altern, Zeit verlieren, während wir Zeit gewinnen für die Frage: Was ist ein Leben?
 
Der Nexus Film-Leben-Lebendigkeit begleitet die Filmtheorie seit ihren Anfängen. Dziga Vertov versuchte, "das Leben wie es ist" mit der Kamera einzufangen, Jean Epstein begeisterte sich für die "Beseelung" der bewegten Bilder ("Photogénie") und Siegfried Kracauer attestierte ihnen das Potenzial zur "Errettung der äußeren Wirklichkeit". Bis ins 21. Jahrhundert beschäftigt die Frage nach dem Leben auf der Leinwand die Filmtheorie. Publikationstitel, die davon zeugen, sind z.B. Chris Tedjasukmanas Mechanische Verlebendigung (2012) und Inga Pollmanns Cinematic Vitalism (2017). Aber auch die Naturwissenschaften (hier vor allem die Biologie) versprachen sich von der Erfindung des Films Einblicke in die Zusammenhänge von lebendigen Organismen, Wachstum und Umwelt. Mit dem Langzeitdokumentarfilm begegnen wir einem von der Idee des Lebens geradezu besessenen Genre. Der Dokumentarfilm trifft hier auf das biologische Experiment der Petrischale, die soziologische Methode der Langzeitbeobachtung, die ethnografische Methode der teilnehmenden Beobachtung sowie auf populäre Serienformate. Von einer "zeitsammelnden Methode" (tschechisch "časosběrná metoda") spricht Helena Třeštíková, die große tschechische Langzeitdokumentaristin, womit sie die Offenheit und damit auch die Unvorhersehbarkeit des Prozesses betont.
 
Langzeitdokumentarfilme entstehen zu Beginn der 1960er Jahre, als die Dokumentarfilmszene sich unter dem Impuls wichtiger Bewegungen wie des Direct Cinema und des Cinema vérité stark verändert. Es handelt sich um Dokumentarfilme oder Dokumentarfilmreihen, die für Kino und/oder Fernsehen produziert werden und deren Produktionszeitraum sich über mehrere Jahre oder Jahrzehnte erstreckt, sodass ein umfassendes Porträt einer individuellen Person, einer Gruppe von Protagonist*innen oder einer ganzen Gesellschaft entsteht. Während Langzeitdokumentarfilme auf der einen Seite Kollektive, Klassendynamiken und gesellschaftspolitische Entwicklungen in den Blick nehmen, ergehen sie sich auf der anderen Seite in der Faszination für individuelle Schicksale sowie in der Betrachtung der Banalität des Alltags. Dabei reflektieren die erzählten Geschichten das Leben nicht nur, sondern es schreibt sich auch in die Materialität der Filmbilder ein: Die Langzeitdokumentation ist sowohl eine Zeitreise durch die Leben gewöhnlicher Menschen als auch ein Ausflug in die jüngere Mediengeschichte. Aufgrund ihrer archivarischen Funktion schreibt sie die Geschichte des Dokumentarfilms selbst mit und macht die medienarchäologischen Übergänge von den analogen Schwarz-Weiß-Bildern der 1960er Jahre hin zu den digitalen Farbbildern unserer Gegenwart sichtbar.
 
Beginnend mit der ältesten Langzeitdokumentation der Filmgeschichte, der deutschen Chronik Die Kinder von Golzow von Winfried und Barbara Junge (DD/DE 1961–2007), versammelt die Filmreihe Lebensverläufe – Langzeitbeobachtungen aus sieben Jahrzehnten zum ersten Mal die internationalen Klassiker des Genres. Von der britischen Up-Serie von Michael Apted und Paul Almond (GB 1964–2019), die zu ihrem 60-jährigen Jubiläum als längste Langzeitdokumentation der Film- und Fernsehgeschichte gilt und die vollständig gezeigt wird, bis zur schwedischen Jordbro-Serie von Rainer Hartleb. Neben diesen ikonischen Filmprojekten werden auch ausgewählte, weniger bekannte Beispiele aus insgesamt zehn Ländern präsentiert, unter anderem aus Südkorea (Daldongne 33 Up, Cho Uhn, 1999–2020), Australien (The Story of Kerry, Josie and Diana 14–47, Gillian Armstrong, 1976–2010) und Frankreich (Les bonnes conditions, Julie Gavras, 2003–2018), sowie ein Spezialprogramm über die bisher produktivste und bekannteste Langzeitdokumentaristin der Welt, die tschechische Filmemacherin Helena Třeštíková (z. B. Soukromý vesmír [Private Universe], 1975–2012, René, 1987–2008). Mit dem Anspruch, die longue durée durch verschiedene mediale Formate zu deklinieren, werden außerdem erstmals zusammen mit Langzeitdokumentarfilmen die zwei frühen Zeitraffer-Filme Kinematographische Studien an Impatiens, Vicia, Tulipa, Mimosa und Desmodium (1898–1900) von Wilhelm Pfeffer und La Croissance des végétaux (1929) von Jean Comandon im Kino gezeigt, sowie experimentellere Formate wie Max Turnheim (Friedl vom Gröller, 2023). Auch wenn das Genre der Langzeitbeobachtung wenig bekannt ist, vermag es über die Grenzen des Dokumentarischen hinweg zu inspirieren, was Richard Linklaters fiktionaler Film Boyhood (2014) beweist, der über einen Zeitraum von zwölf Jahren gedreht wurde.
 
Dass das Leben die besten Drehbücher schreibt, stellen die Filme dieser Auswahl allenthalben unter Beweis. Von der Begegnung mit dem Konzept der longue durée bleibt nichts unberührt: weder die Filmemacher*innen, die ebenso wie die Protagonist*innen dem Fluss der Zeit ausgesetzt sind, noch wir, die Zuschauer*innen. Es ist beinahe unmöglich, von der rohen Lebendigkeit der Lebensverläufe nicht affiziert zu werden. Neben der universellen Erfahrung von Alter und Vergänglichkeit geben die Filme einen präzisen Einblick in gesellschaftlich relevante Themen, wie soziale Ungleichheit, Rassismus, Gender-Rollen und Vorstellungen des "guten Lebens". Jedoch positioniert sich der filmische Blick (fast) immer auf Augenhöhe mit den beteiligten Protagonist*innen und lädt sie zur Reflexion über ihr Leben ein. Dabei treten auch soziale Normen von der Klassenreproduktion bis zur Heteronormativität in ihrer Wirkmächtigkeit in den Blick. (Marion Biet, Nicole Kandioler, Isabella Reicher / Kuratorinnen)
 
Zusätzlich zur Retrospektive versammelt die in Kooperation zwischen der Universität Wien und der Goethe-Universität Frankfurt stattfindende Vortragsreihe Life Courses / Lebensverläufe eine Reihe von Vorträgen, die als Einführungen zu den Filmprogrammen fungieren. Expertinnen des Genres geben Einblick in die Langzeitdokumentationen Die Kinder von Golzow von Winfried und Barbara Junge (DD/DE 1962–2007), die Up-Serie von Michael Apted (GB 1964–2019), Romans d'ados / Romans d’adultes von Béatrice und Nasser Bakhti (CH 2002–2017), Private Universe von Helena Třeštíková (CS/CZ 1975–2012) und The Story of Kerry, Josie, and Diana von Gillian Armstrong (AU 1976–2010).
 
Die Vorträge in englischer und deutscher Sprache richten sich an Filminteressierte, Studierende, Forschende. Eintritt frei
 
Fr 1.3., 15.00 Uhr Britta Hartmann (Bonn) über Die Kinder von Golzow
Fr 15.3., 15.00 Uhr Stella Bruzzi (London) über die Up-Serie
Mi 3.4., 15.00 Uhr Nicole Kandioler (Wien) über Romans d'ados
Fr 12.4., 15.00 Uhr Marion Biet (Frankfurt/Mainz) über Private Universe
Fr 26.4., 15.00 Uhr Ilona Hongisto (Helsinki) über The Story of Kerry, Josie and Diana

Zusätzliche Materialien