David Golder, 1931, Julien Duvivier
Boulevard (Lichter von Paris), 1960, Julien Duvivier
Panique (Panik), 1946, Julien Duvivier
Pépé le Moko (Im Dunkel von Algier), 1937, Julien Duvivier
La fête à Henriette (Auf den Straßen von Paris), 1952, Julien Duvivier
Julien Duvivier

Julien Duvivier
Meister des poetischen Pessimismus

15. Mai bis 1. Juli 2024

Nachdem das Filmmuseum vor einem Jahr mit der Doppel-Retrospektive zu Claude Sautet und Jacques Becker zur Wiederentdeckung zweier vernachlässigter Meister einlud, blicken wir heuer auf eine weitere unterschätzte Schlüsselfigur des französischen Kinos des 20. Jahrhunderts zurück. Julien Duvivier (1896–1967) etablierte sich schon zu Stummfilmzeiten als ein herausragender Regisseur seiner Epoche und schuf in fünf Jahrzehnten bis zu seinem Tod ein außergewöhnliches Œuvre.
 
Sein berühmter Kollege Jean Renoir beklagte 1967 in einem Nachruf auf Duvivier den Tod eines Fachmanns der Filmkunst. Renoir gehört heute zu den kanonisierten Regisseuren der globalen Filmgeschichte, Julien Duvivier nicht. Warum ist das so? Duviviers Filme wurden oft als finster oder pessimistisch charakterisiert und der Künstler dahinter als arbeitswütiger Berserker oder verschlossener Skeptiker. Insofern taugten Duvivier und seine Filme immer gut als Gegenpart zu den lichttrunkenen und wimmelnde Unerschöpflichkeit ausstrahlenden Filmen Renoirs. Wären sie Kirchenmänner statt Filmemacher, so würde man Duvivier vielleicht als unnachgiebigen Franziskaner bezeichnen, Renoir dagegen als versöhnlichen Augustiner.
 
Im Gegensatz zu Renoir wies Duvivier es immer von sich, ein Auteur zu sein. Filmemachen war für ihn ein Handwerk, ein anspruchsvolles, aber erlernbares Handwerk. Duviviers Sinn für Präzision wurde von Kollegen und Zeitgenossen immer wieder gerühmt, ebenso seine Fähigkeit, etablierten Stars wie Danielle Darrieux oder Jean Gabin ebenso herausragende Darstellungen zu entlocken wie Brigitte Auber oder Jean-Pierre Léaud, die erst am Anfang ihrer Karriere standen.
 
Duvivier lebte Film, oder wie Elke Seel-Viandon über die Arbeit ihre Mannes Robert Vernay berichtet, der in den 1930ern Regieassistent bei vielen von Duviviers Filmen war: "Zehn Jahre Assistenz bei Duvivier hatte zwei Folgen. Die erste: Man lernte wirklich sein Metier von Grund auf. Und die zweite: Man lernte leiden, ohne zu klagen."
 
Duviviers Werk reicht von ernsten Krimis wie den beiden Simenon-Verfilmungen La tête d'un homme (1933) und Panique (1947) bis zu übermütigen Komödien wie La fête à Henriette (1952) oder dem zeitlosen Klassiker Le petit monde de Don Camillo (1952); von sensiblen Kindheitserzählungen wie Poil de carotte (1925 als Stumm-, 1932 als Tonfilm) oder Boulevard (1960) bis zu melancholischen Lebensbetrachtungen wie La belle equipe (1936) oder La fin du jour (1939); von düsteren Dramen wie David Golder (1931) oder Au royaume des cieux (1949) bis zu Episodenfilmen wie Un carnet de bal (1937) oder Lydia (1941), die ihr jeweiliges Thema mit leichter Hand durchdeklinieren; von bildgewaltigen Hommagen an frühere Kinoepochen wie Le mystère de la tour Eiffel (1928) oder La charrette fantôme (1940) bis zu kompromisslos experimentellen Passagen in Werken, die sich eigentlich dem klassischen Erzählkino verschrieben haben wie Allô Berlin ? Ici Paris ! (1932) oder Sous le ciel de Paris coule la Seine (1951) – und manchmal wechselte der Tonfall seines Werks gar innerhalb eines Jahres von einem Film zum nächsten.
 
Duvivier drehte in Frankreich, Italien, der Tschechoslowakei und den USA, ebenso in der Weimarer Republik wie in der Bundesrepublik. Was Duvivier in den Filmindustrien der Länder, in denen er arbeitete, Respekt und Hochachtung einbrachte, trug im Umkehrschluss dazu bei, dass Publikum und Kritik ihn im Verlauf seiner Karriere nicht mehr einordnen konnten. Mitunter schien er sich dem Trend zum Markenzeichen – wie etwa Alfred Hitchcock (im Genre des Kriminalfilms) oder Billy Wilder (in der Komödie) – regelrecht zu verweigern. Und auch, dass man ihn aus genau diesen Gründen eher als Filmhandwerker und Routinier ansah, denn als Filmkünstler schien den Mann nicht besonders zu tangieren – nur dass er dabei irgendwie durch die Raster der Filmgeschichte fiel.
 
Verstärkt wurde dies durch den Umbruch im französischen Kino der 1950er, die politique des auteurs der Cahiers du cinéma, angeführt von den zukünftigen Regisseuren der Nouvelle Vague wie François Truffaut oder Jean-Luc Godard. Deren "Lehrmeister" André Bazin hatte bereits 1948 geschrieben: "Einen Film von [...] Julien Duvivier erkennt man nicht an seinem Stil, sondern einzig und allein an der mehr oder weniger häufigen Verwendung völlig klassischer Effekte." Und für François Truffaut, der durchaus ein differenziertes Verhältnis zu Duvivier hatte, war dieser rückblickend nicht mehr als ein guter französischer Handwerker mit einer Vorliebe für das amerikanische Kino. Diese Einschätzungen, die man schon abfällig nennen kann, fanden auch Eingang in die einschlägigen angelsächsischen Filmlexika und Standardwerke zur Autorentheorie und wirk(t)en nach – bis heute. Übersehen wird dabei die Vielgestaltigkeit von Duviviers Werk, das zudem wie eine kinematografische Begleitmusik entlang der großen kultur-, sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Frontlinien und Verwerfungen seiner Zeit wirkt: polymorph hinsichtlich der Themen, unvorhersehbar in den stilistischen Herangehensweisen und beeindruckend differenziert in der Durcharbeitung konträrer Positionen.
 
Aus dem Geiste des poetischen Realismus entwarf Duvivier eine sich von Film zu Film komplexer entwickelnde Sicht der Welt, in die immer wieder jähe Gewalt einbrechen kann und in der dennoch oft ein humanistischer Funken Hoffnung bleibt. Die Abgründe der menschlichen Natur interessierten ihn mehr als ihr Liebreiz. Der Mensch als Einzelner kann gut sein, als Meute wird er fast immer bösartig. Christliche Symbolik ist oft präsent, aber das Christentum bietet keine Erlösung für das Seelenheil. Solidarität und Freundschaft können dies ermöglichen, sich aber ebenso als Illusion erweisen. Und doch ist in den fast 70 Filmen Duviviers selten Verbitterung zu spüren. (Ralph Eue, Frederik Lang)
 
Mit einer Auswahl von 26 Filmen widmet das Filmmuseum dem "Meister eines poetischen Pessimismus" die erste Retrospektive in Österreich. Die Kuratoren Ralph Eue und Frederik Lang sowie Brigitte Mayr, Michael Omasta und Christoph Huber geben Einführungen zu ausgewählten Filmen.
 
In Kooperation mit dem Institut français d'Autriche und SYNEMA – Gesellschaft für Film und Medien
 
Begleitend ist 2023 bei SYNEMA (Wien) die Publikation Julien Duvivier. Virtuoses Kinohandwerk erschienen, herausgegeben von Ralph Eue und Frederik Lang. Mit Beiträgen von Dominik Graf, Heike Klapdor, Gerhard Midding, Ben McCann, Peter Nau, Marie Epstein und den Herausgebern sowie einer kommentierten Auswahlfilmografie
Zusätzliche Materialien