Agnès Varda

Demy / Varda: Filme von Agnès Varda

2. bis 31. Oktober 2006

 

Die Umbrüche und Veränderungen im französischen Nachkriegskino begannen nicht mit den Spielfilmen der Nouvelle Vague, sondern schon lange vorher, mit dem ersten Film von Agnès Varda – La Pointe courte, 1954 in einem Fischerdorf gedreht, getrieben vom Neorealismus, besessen von William Faulkner. Ein betörendes Werk, dessen individuelle wie filmhistorische Bedeutung bisher kaum gewürdigt wurde.
 
Zum gleichen Zeitpunkt hatten die Herren von der Nouvelle Vague und der "Rive Gauche" (letztere waren Teil von Vardas Team) gerade ihren ersten Kurzfilme begonnen ... Das Polemische einer solchen Aussage passt gut zu Varda, deren Kino das Pamphlet genauso liebt wie das Ironische, Verspielte, Verstiegene. In gewisser Weise sind ihre Filme – egal, ob dokumentarisch oder fiktional ausgerichtet – allesamt Essays, luzid, geschlossen und gierig auf Ideen, Eingebungen, Bilder.
 
Agnès Varda, 1928 in Brüssel geboren und während des Zweiten Weltkrieges ins französische Sète geflohen, kam über Literatur, Kunst(geschichte) und Sinologie zur Fotografie, genauer: zur Theaterfotografie. Am Anfang ihres Kinos steht das Bild, und zwar das einzelne, stumme Bild, das Bild eines Moments, aus der Bewegung gepflückt.
 
Zu dieser Grundlage kehrt sie regelmäßig zu rück, einige ihrer brillantesten Kurzfilme basieren auf Fotografien bzw. der Philosophie der Fotografie. Das Programm Cinévardaphoto fasst drei dieser Werke aus drei Jahrzehnten zusammen: ihre quirlig-solidarische Verneigung vor der kubanischen Revolution, Salut les Cubains! (1963); ihre Anatomie eines – auch historischen – Augenblicks, Ulysse (1982); und ihre Kontemplation über die Zeit, den Zerfall, der nach uns bleibt, Ydessa, les ours et etc... (2004).

Das Problem des (Selbst-)Bildes – was man damit macht und was es mit einem macht – bestimmt eine Dekade lang ihr Schaffen: In ihrem Durchbruchswerk Cléo de 5 à 7 (1961) etwa zerbricht das Weltbild einer jungen Frau, als sie erfährt, dass sie (möglicherweise) Krebs hat, während sich Le Bonheur (1965) der bürgerlichen Doppelmoral über die Ästhetik des Röhrenden Hirsches nähert.
 
Mit ihrem Jacques Demy gewidmeten, nouveau roman-haften Film Les Créatures (1966), einer genialen (damals völlig miss ver stan denen) Meditation über den Realismus des Erzählens und die Künstlichkeit aller zwischenmenschlichen Beziehungen, beginnt in Vardas Kino eine Phase der radikalen Hinwendung zur Wirklichkeit – damit auch zur politischen Realität ihrer Tage.
 
Zwischen Los Angeles und Paris entstehen Bestandsaufnahmen dessen, was man heute "1968 und die Folgen" nennt. Das reicht von konkreter Gegeninformation (Black Panthers, 1968) bis zum grandiosen Epos über die Frauenbewegung (L’une chante l’autre pas, 1977), von der kalifornischen Subkultur (Lions Love, 1969) bis zum konkreten Alltag in der eigenen Pariser neighbourhood (Daguerréotypes, 1975).
 
Im Grunde endet diese Periode erst 1985, als Varda in ihrem Meisterwerk Sans toit ni loi (über die Vagabundin Mona, gespielt von Sandrine Bonnaire) von einem inneren Hunger spricht, den das Brot nicht zu stillen weiß. Mit ihrem aggressivsten und realistischs ten Film wird alles gesagt. Was danach kommt, ist eine Suche nach der vergangenen Zeit – und danach, wie das Politische im Privaten wirkt.
 
Varda macht nie den Fehler, das eine mit dem anderen zu verwechseln oder gar zu glauben, das eine ginge schon irgendwie im anderen auf und löse sich so von selbst. So entstehen Filme, in denen das "Kleine" und das "Große", das beiläufig Eingesammelte und der umfassende, erhellende Gedanke selbstverständlich ko exis tieren, von Kung-Fu Master (1988, mit Jane Birkin und Mathieu Demy) bis zu Vardas größtem Erfolg der letzten Jahre, Les Glaneurs et la glaneuse (2000).

Zwei dieser verräterisch "privaten" Filme gelten ihrem 1990 verstorbenen Mann Jacques Demy: Jacquot de Nantes (1991) und L’Univers de Jacques Demy (1995) sind der erzäh lerische bzw. dokumentarische Ausdruck einer Beziehung zwischen zwei Menschen, die verbunden waren in der Liebe zuein ander, zum Kino und zur konkreten Wirklichkeit.
 
Die Auswahl der Filme von Agnès Varda wurde gemeinsam mit der Filmemacherin fest gelegt. Agnès Varda wird bei einigen Vorstellungen im Filmmuseum anwesend sein und über ihre Arbeit sprechen. Begleitend zur Retrospektive erscheint eine umfangreiche Publikation der Viennale.

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