Claire Denis
Das Gesamtwerk und Carte blanche
1. bis 19. Mai 2005
Im Mai 2005 präsentiert das Filmmuseum das Gesamtwerk der bedeutendsten zeitgenössischen Filmregisseurin und das erste deutschsprachige Buch über ihr Werk: Die Französin Claire Denis hat sich einer radikal eigensinnigen Ästhetik verschrieben, in der Sinneseindrücke, Körperlichkeit und „musikalische Bilder“ den Vorrang vor konventionellen Erzählweisen erhalten. Gleichzeitig kreist ihr Werk um zentrale Gegenwartsthemen: verwirrte Geschlechterverhältnisse, soziale und kulturelle Grenzüberschreitungen, die Auflösung von nationaler Identität unter postkolonialen Vorzeichen, und – ganz essentiell: Sexualität und (filmisches) Begehren.
Neben ihren Spiel- und Dokumentarfilmen und ihren zahlreichen, kaum bekannten kurzen Arbeiten werden auch zwölf „Lieblingsfilme“ zu sehen sein, die Claire Denis für das Filmmuseum zusammengestellt hat. Diese Carte blanche ist Denis’ indirekter Kommentar zur eigenen Arbeit; sie spannt den Bogen von Murnau und Renoir bis hin zu Monte Hellman und Oshima Nagisa, von Godard und Philippe Garrel bis zu Fassbinder und dem koreanischen „Geheimtipp“ Hong Sang-soo. Denis’ eigenes Kino erhält im Zuge dieser Gegenüberstellungen nochmals neue Konturen.
Denis, 1948 in Paris geboren, verbringt die Kindheit in Französisch-Westafrika. Nach dem Filmstudium arbeitet sie am Theater und als Regieassistentin, u.a. für Wim Wenders, Jim Jarmusch und Jacques Rivette, über den sie 1990 einen bewegenden Dokumentarfilm drehen wird (sein Hauptwerk Le Pont du Nord firmiert auch in ihrer Wiener Filmauswahl). Denis’ erster Langspielfilm Chocolat (1988) ist eine autobiografisch geprägte Erzählung aus den letzten Tagen der Kolonialzeit in Kamerun; die subtilen, oft widersprüchlichen Stimmungen und die brüchige Psychologie zeigen bereits ihr besonderes lyrisches Talent. Mit dem brillanten Post-Film-Noir S’en fout la mort (1990, über das Milieu illegaler Hahnenkämpfe) und dem „kleinen Teenagerfilm“ US Go Home (1994) festigt sich ihr Ruf als Erneuerin des französischen Kinos: Die zentrale Party-Sequenz in US Go Home ist eine virtuos choreografierte Übersetzung innerer Konflikte in Rhythmus, Gestik und Klang. Die inzestuöse Unterströmung dieses Films greift Denis zwei Jahre später erneut auf – in ihrem bekanntesten Werk, dem wundersamen Geschwisterdrama Nénette et Boni.
Seit dem Serienmörderfilm J’ai pas sommeil (1994) ist Denis’ kongeniale Zusammenarbeit mit der Kamerafrau Agnès Godard mitbestimmend für ihr Werk. Dieser Film machte Denis auch außerhalb Frankreichs bekannt; er bildet eine Art Modell für ihr späteres Schaffen – moderne Neudeutungen von Genremythen, klassische Stoffe, die in fremdes und freies Gelände geführt werden. Ein blutiger Vampirfilm (Trouble Every Day, 2001), ein inniger Liebesfilm (Vendredi soir, 2002) und – als vorläufige Höhepunkte in ihrem Schaffen – zwei aberwitzige Abenteuerfilme (Beau Travail, 1999, und L’Intrus, 2004). Filme, die allesamt auch vom Abenteuer des Sehens handeln.
Das von Isabella Reicher und Michael Omasta herausgegebene Buch Claire Denis. Trouble Every Day (Band 1 der neuen Reihe FilmmuseumSynemaPublikationen) wird am 1. Mai, zum Auftakt der Retrospektive präsentiert. Erstmals sind hier in deutscher Sprache Texte internationaler Autoren (wie z.B. Jean-Luc Nancy, Christine Noll Brinckmann, Ralph Eue, Jim Jarmusch), Gespräche und genaue Informationen zu Denis’ Werk versammelt.
Claire Denis wird von 5. bis 7. Mai im Filmmuseum anwesend sein und mit dem Publikum über ihre Filme diskutieren. An diesem Wochenende findet auch die Premiere ihres jüngsten, in Frankreich und Berlin gefeierten Films Vers Mathilde über die Choreografin Mathilde Monnier statt.
Die Veranstaltung wird vom Institut Français de Vienne und vom Ministère des Affaires Etrangères unterstützt.