M, 1931, Fritz Lang © Horst von Harbou - Deutsche Kinemathek

Asphalt. Stadtmenschen im Weimarer Kino, 1923-1933

13. Februar bis 9. März 2015

 

Das Kino der Weimarer Republik repräsentiert die Hochblüte des deutschen Films: Klassiker wie Der letzte Mann von Friedrich Wilhelm Murnau, Metropolis und M von Fritz Lang oder die großen Stummfilme von Georg Wilhelm Pabst gelten als Schlüsselwerke des Mediums. Dabei sind sie nur die Spitze des Eisbergs einer in jeder Hinsicht unglaublich reichen Kinolandschaft, ermöglicht durch den Boom der deutschen Filmindustrie nach dem Ersten Weltkrieg. Die Inflation erlaubt preisgünstiges Produzieren – und schafft Freiraum für künstlerische Experimente.

 
Kühne Innovationen gehen hier Hand in Hand mit dem faszinierten Blick auf eine gewandelte Welt: Die Lebenserfahrung der Moderne ist von sozialen, ökonomischen und spirituellen Verlustängsten ebenso geprägt wie vom Versprechen auf raschen Aufstieg und neue Freiheiten. Zu einem filmischen Hauptmotiv dieser existenziellen Umwälzung wird die Großstadt mit ihren auf engstem Raum zugespitzten Klassenunterschieden, dem Aufkommen der Massenkultur und einer überwältigenden Fülle an Eindrücken: „Gewimmel, welch Gewimmel. Wie sich das bewegte“, beschreibt Alfred Döblin in dem von Piel Jutzi beeindruckend verfilmten Stadtroman Berlin – Alexanderplatz die Reizüberflutung, von der Franz Biberkopf erfasst wird.

 
Karl Grunes Film Die Straße (1923) über einen Kleinbürger, der von den Lichtern der Großstadt in die Welt des Verbrechens und der Dekadenz gelockt wird, etabliert den Grundriss eines neuen Genres: Der „Straßenfilm“ erforscht urbane Lebenswelten unter dem Einfluss der Neuen Sachlichkeit (vollendet umgesetzt in Ernö Metzners erstaunlicher, prompt verbotener Kurzstudie Polizeibericht Überfall). Ironischerweise erfindet das Weimarer Kino dabei auch eine künstliche Stadt, die dank filmtechnischer Entwicklungen neu und frei gestaltbar wird. Die „entfesselte“ Kameraarbeit von Der letzte Mann sorgt selbst in den USA für ungläubiges Staunen, Grunes gewaltige Stadtpanoramen sind im Studio konstruiert (Siegfried Kracauer nennt sie eine „Folge futuristischer Gemälde“), und Metropolis, inspiriert von Fritz Langs New-York-Besuch, löst den Science-Fiction-Aspekt dieser labyrinthischen Kunstkinostadt Berlin endgültig ein.

 
Als „Hollywood Europas“ beansprucht das Studio Babelsberg dank seiner enormen Fertigungsqualität bereits 1925 Weltrang. Und auch jenseits von Lang, Murnau und Pabst schließen so unterschiedliche Regisseure wie Ludwig Berger, Robert Siodmak, Werner Hochbaum oder herausragende Drehbuchautoren (Carl Mayer), Filmarchitekten (Erich Kettelhut, Otto Hunte) und Kameramänner (Eugen Schüfftan, Karl Freund) bis Anfang der 1930er Jahre in die erste Riege des internationalen Filmschaffens auf.

 
Diese Gestalter der kinematografisch-virtuellen Stadt haben ein wichtiges Gegenüber in den realen Metropolen der Weimarer Republik: Wie Siegfried Kracauer in seinen Feuilletons minutiös beschreibt, zieht der „Kult der Zerstreuung“ ein neues Massenpublikum von Angestellten und „Ladenmädchen“ in Kinos, die nun selber das Stadtbild verändern. Die Leuchtreklamen der neuen Paläste, emblematisch für die Lockungen der urbanen Konsumkultur, bewerben auch Filme, die genau davon erzählen – wie das gigantische, strahlende Stadtbild-Transparent für Joe Mays Asphalt belegt. Dieser Höhepunkt des Straßenfilms liefert gemeinsam mit M ein Weimarer Modell für das spätere urbane Chaos im Film Noir. Das fatalistische Bild vom Menschen als einem Gefangenen des Systems Großstadt hallt sogar noch in einem berühmten dokumentarischen Querschnittsfilm nach, der die Individuen in sein konstruktivistisches Arrangement einspannt wie in eine Maschine: Berlin, die Sinfonie der Großstadt.

 
Konträre Linien zeigen sich nicht nur an dem unabhängigen, on location gedrehten Pionierwerk Menschen am Sonntag mit seiner freien Milieuzeichnung, sondern auch in der filmischen Entwicklung der Klassenfrage: vom hyperdramatischen Kontrast zwischen Arm und Reich (Die freudlose Gasse) über Gerhard Lamprechts „Milljöh“-Querschnitte hin zu einem aufgeklärten Realitätsbewusstsein unter verschärften politischen Bedingungen. Die Höhepunkte dieses linken Kinos um 1930 sind Leo Mittlers Jenseits der Straße, Piel Jutzis Mutter Krausens Fahrt ins Glück und Bertolt Brechts und Slatan Dudows Kuhle Wampe mit dem unvergesslichen Dialog: „Wer wird die Welt ändern?“ – „Na die, denen sie nicht gefällt!“

 
Die Einführung des Tonfilms gibt dem virtuosen Weimarer Kino viele weitere Impulse, ob im Fall von M oder den Filmen Hochbaums, bei Siodmaks Abschied oder Sternbergs Der blaue Engel (mit Marlene Dietrich als urbaner Femme fatale auf Provinztournee). Und für kurze Zeit mag man, während sich die politische Lage verfinstert, daran glauben, dass in Berlin auch eine schlagkräftige Konkurrenz zum amerikanischen Unterhaltungskino gedeiht. Bestechende urbane Musikkomödien wie Ein blonder Traum (mit Lilian Harvey in einem Wohnwagen namens „Villa Hollywood“) zitieren 1932 noch ganz verspielt das kalifornische Vorbild. Aber dank des braunen Alptraums wird Hollywood schon bald – oft mit großen Umwegen – zur realen Flucht-Destination für viele der bedeutendsten Kinostadtmenschen Deutschlands.

 
Die Retrospektive präsentiert rund 30 Werke des Weimarer Kinos. Der letzte Mann, Berlin, die Sinfonie der Großstadt und Metropolis werden mit ihrer jeweiligen Originalmusik (von Giuseppe Becce, Edmund Meisel und Gottfried Huppertz) vorgeführt. Robert Siodmaks verloren geglaubter Film Stürme der Leidenschaft wurde jüngst in Tokio wiederentdeckt und ist erstmals seit 80 Jahren wieder in Österreich zu sehen.