Animals
Eine kleine Zoologie des Kinos
16. Oktober bis 30. November 2015
Das Tier, das im Reich der Kinotiere den Ton angibt, ist der Mensch. Er dominiert das Geschehen, erhebt sich über die anderen Tierarten, teilt sie für bestimmte Aufgaben ein und lässt sie kaum je an die Kamera oder den Schneidetisch. Das Kino der Ameisen (Phase IV), der Vögel (Uccellacci e uccellini) oder der Fische (Leviathan) bleibt daher immer ein Kino der Menschen – auch wenn wir uns noch so gerne ausmalen, wie es andersherum aussehen würde (Der Planet der Affen gibt davon eine ungemütliche Ahnung).
Neben dem Zoo, in dem ähnliche Machtverhältnisse herrschen, ist das Kino jenes visuelle Medium, das den beschleunigten Übertritt ins Zeitalter des „Naturverlusts“ am deutlichsten markiert. Im 19. und 20. Jahrhundert verschwinden die Tiere sukzessive aus dem Lebensalltag und der Arbeit der Menschen (wie auch aus der „freien Wildbahn“) und kehren in Streicheltiergestalt, im kapitalistischen Kitsch, in Form von Großwildjagdtrophäen oder eben als Kinotiere zurück. Die Kulturwissenschaft hat zur Genüge dargestellt, wie sie dabei ab- und zugerichtet oder gar hingerichtet worden sind: anders zwar als in der Realität der Nahrungsmittel- oder Bekleidungsindustrie, aber unter demselben ideologischen Himmel.
Dieser Entfremdungsprozess in der Moderne, wie ihn etwa John Berger in seinem Essay „Warum sehen wir Tiere an?“ konstatiert, ermöglichte allerdings nicht nur die gesteigerte, systematische Gewalt gegen Tiere, sondern auch ein neuartiges Bewusstsein von ihrem Leiden – von Fragen nach dem (Arten-)Schutz und der Würde der Tiere bis hin zur zeitgenössischen Diskussion über Tierrechte. Es gibt heute ein Zögern angesichts des Tiers, und das Kino hat (bei aller „Vermenschlichung“, die es an den Tieren betreibt) keinen geringen Anteil an dieser Entwicklung. Denn es zeigt in seinen fotografischen Bildern auch die Grenzen des menschlichen Blicks und seines Kontrolldrangs. Es eröffnet eine Welt, so André Bazin, in der Tiere und Dinge gänzlich unabhängig vom Menschen bzw. gleichberechtigt mit ihm existieren können.
Nicht zuletzt deshalb haben die Tiere des Kinos ihren Stachel, ihre Lebendigkeit, ihre manchmal dunkel provokante, manchmal aufklärerische Kraft bewahrt. Umso mehr, wenn man nicht die weltweit dominanten Gattungen des Tierfilms und -fernsehens ins Auge fasst: nicht den „wissenschaftlichen“ Film oder die quotenträchtige Naturdoku, sondern den besonderen Reichtum jener fiktionalen, essayistischen, experimentellen Selbst- und Fremdbilder, die das eigenständig denkende und filmende Menschentier durch seinen Blick auf andere Tiere hervorgebracht hat. Das ist der Horizont, den diese „kleine Zoologie des Kinos“ nachzeichnet: Die Tiere und ihre Bilder schauen zurück. Und zeigen uns (als stets bedrohte Tiere), wie es um unsere Gesellschaft, unser Zusammenleben miteinander und mit ihnen sowie um die Grenzen und Täuschungen der Humanität bestellt ist. Oder führen uns (als stets bedrohliche Tiere) ins Reich der Mythen, Monster und Mutanten. Ihr prekärer Status ist unserer.
Vom proto-kinematografischen Katzensprung bei Étienne-Jules Marey in den 1880er Jahren bis zur digitalen Trash Cat des Jahres 2015; von Godzilla bis zum Esel Balthasar; von Winsor McCays animierter Stechmücke bis zu den Creature Comforts der Aardman Animations; von Cocteaus Tiermensch in La Belle et la bête über Truffauts Wolfsjungen bis zum menschlichen Labor-Tier bei Alain Resnais; vom Rotfuchs bei Michael Powell, Arne Sucksdorff und Wes Anderson bis zum Pottwal bei John Huston und Chris Marker: Es sind die vielfältigsten Bögen, Knoten und zoologischen wie filmhistorischen Verwandtschaften und Kontraste, die das Programm dieser Retrospektive prägen.
Ihr Ziel ist nicht akademische Einhegung, sondern Offenheit gegenüber einer „krypto-zoologischen“ Wildnis: jener des Kinos und seiner Kategorien. Denn für unsere Schaulust, Identifikation und Nachdenklichkeit ist es oft gar nicht so wichtig, ob die Kinotiere „auf frischer Tat ertappt“ oder dressiert, „echt“ oder erfunden, effektvoll nachgemacht oder gar nur gezeichnet sind. Umso deutlicher können sie uns das Wilde, Unreine am Kino vor Augen führen: wenn etwa mitten in eine aufwändige Western-Inszenierung das „Dokumentarische“ einer großen Kuh- oder Büffelherde einbricht – oder sämtliche Rollen eines nur im Studio gedrehten Spielfilms mit lebendigen Tieren besetzt sind wie in Jean Touranes Une fée... pas comme les autres. Oder wenn umgekehrt, in Battle at Kruger, eine wackelige Safari-Amateurkamera das fantastischste Schlachtenepos festhält, das je auf einer Kinoleinwand zu sehen war.
Mit 140 ausgewählten Beispielen greift die Schau so weit wie möglich aus, in einen filmisch-tierischen Darstellungsraum, der dennoch unermesslich bleibt. Denn das „Leben der Anderen“, das hier zwischen Schauermärchen und Screwball Comedy, Gesellschaftsstudie und Thriller, Dschungeldrama und Direct Cinema zur Anschauung kommt, ist in gewisser Weise eine Allegorie des Kinos selbst. Diese unheimliche Lebendigkeitsapparatur war für viele Filmtheoretiker eine Art Tier-Ersatz des modernen Zeitalters – ein Menschmaschinentier, das von Animismus, Animation und Animalität jeweils gleich viel versteht und am Ende, wenn alles gut geht, dennoch Artefakte abwirft: bleibende Werke der menschlichen Kultur.
Man kann es, wie Ludwig Wittgenstein, auch einfacher und grundsätzlicher sagen: „In aller großen Kunst ist ein wildes Tier: gezähmt.“
Animals ist die gemeinsame Retrospektive des Filmmuseums und der Viennale 2015. Unser Dank gilt den vielen Menschen und Archiven, die die Schau als Leihgeber unterstützen, in besonderem Maße Elif Rongen vom EYE Film Institute, Amsterdam.
Hinweis: Am 31.10. findet um 13 Uhr eine Zusatzvorstellung von "The Birds" (1963, Alfred Hitchcock) mit einem anschließenden Gespräch mit Tippi Hedren statt.