Say Hello – Zu Gast im Filmmuseum: Thom Andersen

22. September bis 4. Oktober 2017

Als Filmkritiker hätte er nicht überleben können, weil er zu langsam schreibe, eröffnet Thom Andersen (*1943) im Vorwort zur neuen Anthologie seiner Schriften, Slow Writing. Also sei er Lehrer geworden, und daraus folgte eine Berufung. So hat er auf vielfältige Art – als Filmemacher und Vortragender, als Autor und Kurator, als Kulturhistoriker, der fächerübergreifende Zusammenhänge herstellt – langsam und schubweise, aber in völliger Freiheit des Denkens seit über 50 Jahren die Auseinandersetzung mit den Laufbildern entscheidend bereichert: ein Geschenk, das vom Filmmuseum in seiner ganzen Bandbreite weitergegeben wird.
 
Dem Wuchern postmoderner Beliebigkeit und einer zersplitterten Kinokultur hält Andersen den unerschütterlichen Glauben entgegen, dass Film (weiterhin) etwas zu sagen hat – und sagen soll: über die Wirklichkeit und Lebensverhältnisse. Sein weltweit gefeierter Essayfilm Los Angeles Plays Itself (2003/13) bringt es auf den Punkt: Kritisch, gewitzt und unhierarchisch analysiert Andersen die Repräsentation seiner Heimatstadt im Kino, bündelt seine Interessen (wie Pop & Politik, Architektur & Gesellschaft, Film & Realität) zur aufklärerischen Gebrauchsanweisung: "Ich denke, wenn man in einen Dokumentarfilm geht, sollte man etwas lernen."
 
Und zwar eine tiefere Wahrheit: Schon Andersens Kurzfilme der 1960er und sein Langfilmdebüt über den Fotografen und Kino-Vorläufer Eadweard Muybridge (1975) beschäftigten sich philosophisch und verblüffend mit dem Verhältnis zwischen der Welt und ihrem Abbild. Im bahnbrechenden Comeback Red Hollywood (1996/2013) untersuchte Andersen mit Noël Burch die politischen Optionen in der Unterhaltungsindustrie anhand der McCarthy-Hexenjagd. Die beiden kuratierten dazu u.a. die Retrospektive "Blacklisted" (2000) für die Viennale und das Filmmuseum, 2008 folgte Andersens ebenso engagierte Schau zu Los Angeles. Seither haben kleinere Filme mit unterschiedlichen Stoßrichtungen sowie Andersens idiosynkratische, an Gilles Deleuze geschulte Geschichte(n) des Kinos, The Thoughts That Once We Had (2015), sein Œuvre wesentlich vertieft – parallel zur verstärkten Autorentätigkeit, die intelligentes, kraftspendendes, besseres Kino fordert: "Wir brauchen keine weiteren Meisterwerke. Wir brauchen Arbeiten, die nützlich und bescheiden sind."

Diese Ideen werden in Andersens Carte blanche vertieft: von bekannten Avantgarde-Weggefährten wie Morgan Fisher und James Benning zu Wiederentdeckungen wie Andrew Meyer, vom B-Picture-Klassiker The Big Combo (1955), dessen Radikalität mitten in Andersens Film-Noir-Forschungen führt, zur subtilen Milieustudie 35 rhums (2008) von Claire Denis. Mit typischer Unvoreingenommenheit inkludiert Andersen zudem den (gerade in Europa) als oberflächlichen Populisten punzierten Dokumentarfilmer Michael Moore, den er als einen der letzten Systemkritiker der USA begreift: "Seine Filme unterhalten, informieren, überraschen und bewegen ihre Zuseher." Und entsprechen damit Andersens Forderung, "dass Kunst die Kraft hat, die Welt zu verändern, was diese mehr und mehr zu brauchen scheint."
 
Thom Andersen ist eine Woche lang im Filmmuseum zu Gast, um seine Schau zu begleiten, die in der Folge vom Pariser Centre Pompidou übernommen wird. "Slow Writing", die neue Anthologie seiner Texte zum Kino (The Visible Press, Hg. Mark Webber), wird in Wien erstmals vorgestellt.
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