Tulitikkutehtaan tyttö (Das Mädchen aus der Streichholzfabrik), 1990, Aki Kaurismäki

Das Kino des Aki Kaurismäki

6. April bis 3. Mai 2018
 

Den April widmet das Filmmuseum einem der großen Gegenwartsregisseure: Der Finne Aki Kaurismäki (*1957) etablierte sich in den 1980er Jahren mit Werken wie dem lakonischen Road Movie Ariel auch jenseits der Landesgrenzen als Ausnahmetalent und als internationaler Publikumsliebling. Von Anfang an zeigte sich dabei seine Handschrift sowohl im unverwechselbaren minimalistischen Stil wie im humanistischen Zugang: Trockener, oft mürrischer Humor verbindet sich mit einer Gefühlstiefe, die gerade durch Understatement zur vollen Entfaltung kommt: Es ist die Größe der Bescheidenheit, die Kaurismäkis Kino den gelassenen wie unwiderstehlichen drive gibt.
 
Im Beharren auf klassenkämpferische Erzählungen über Außenseiter und Sozialverlierer – meist vom Kapitalismus aus der Bahn geworfene Proletarier – ist Kaurismäki zudem ein eminent politischer Regisseur, der nicht thesenhaft argumentiert, sondern über das grundlegende Verständnis für menschliche Würde und Anstand. Insbesondere im Spätwerk, etwa seinem jüngsten Film Toivon tuolla puolen (Die andere Seite der Hoffnung), hat Kaurismäki dabei die andauernde Flüchtlingskrise ins Zentrum gestellt, um von einer gesellschaftlichen Solidarität zu erzählen, die unter wirtschaftlichem Druck und ideologischer Verhärtung zusehends ins Wanken gerät. Dabei argumentiert Kaurismäki (auch in den stimmigen Milieudetails) stets praktisch: Trotz konsequenter Untertreibung und liebenswürdiger Exzentrik sind es populäre Geschichten mit Witz und Sentiment – ein Kino der Herzensbildung.
 
Die Schweigsamkeit (und Trinkfreudigkeit) seiner Protagonisten wird gern – und keineswegs zu Unrecht – als amüsanter Ausdruck einer finnischen Mentalität aufgefasst, aber die Reduktion aufs Wesentliche ist auch Resultat leidenschaftlicher Cinephilie: Meisterregisseure wie Buster Keaton, Luis Buñuel, Robert Bresson und Ozu Yasujirō, amerikanische B-Pictures oder französische Melodramen bilden das Fundament für die Verdichtung zum gleichermaßen originellen wie klassisch geschulten Kaurismäki-Kino. Eine persönlich ausgewählte Carte blanche beleuchtet Kaurismäkis wichtigste Wahlverwandtschaften im Dialog mit seinem Gesamtwerk.
 
Kaurismäkis profunde Filmkenntnis – ebenso wie die Genauigkeit seiner sozialen Schilderungen – entspringt seinen Jugendjahren in den 1970ern, als er sich als Postler oder am Bau durchschlug, um in der Freizeit das Filmangebot in Kinos und Fernsehen in vollen Zügen auszukosten. Als Leiter des finnischen Filmarchivs wurde Peter von Bagh, dem das Filmmuseum 2014 posthum Tribut zollte, eine Art Mentor – 1986 gründete er mit Kaurismäki das legendäre Midnight Sun Film Festival. Da war Kaurismäki am Sprung zum filmischen Durchbruch, nachdem er als Darsteller, Drehbuchautor und Co-Regisseur mit seinem Bruder Mika Anfang der 1980er bereits bemerkenswerte Frühwerke geschaffen hatte.
 
1983 wurde Kaurismäkis Solo-Regiedebüt Rikos ja rangaistus (Schuld und Sühne) Auftakt zu einer Werklinie von unprätentiösen, in jeder Hinsicht freien Klassikerverfilmungen, die demonstrieren, dass Kaurismäki als Vielleser ebenso von der Literatur geprägt ist. 1985 legte dann der surreale Kultfilm Calamari Union den Grundstein für eine Serie eigenwilliger Road Movies, den erfolgreichen Filmen mit der "schlechtesten Rockband der Welt", den Leningrad Cowboys. Im Jahr darauf zeigte die Tragikomödie Varjoja paratiisissa (Schatten im Paradies) schon den Kaurismäki-Stil in Vollendung: In der Liebesgeschichte zwischen einem Müllmann und einer Supermarktkassierin (gespielt von den Kaurismäki-Ikonen Kati Outinen und dem 1995 verstorbenen Matti Pellonpää) wird das Alltäglichste zum Universalen und die Welt der kleinen Leute zur Bühne des großen Kinos à la Kaurismäki – ganz direkt und frei von falschen Gefühlen, kunstvoll gerade in seiner streng stilisierten Ungekünsteltheit und bei aller Melancholie und Illusionslosigkeit im Blick auf die soziale Wirklichkeit zutiefst utopisch im Glauben an den Menschen. Denn wo Schatten ist, ist auch Licht – zugleich das Wesen von Film an sich und der Herzschlag von Aki Kaurismäkis Kunst.
 
Die von Aki Kaurismäki ausgewählten Filme stammen von Ernst Lubitsch, Edward M. Sedgwick jr. & Buster Keaton, Marcel Carné, Teuvo Tulio, Robert Wise, Luis Buñuel, Ozu Yasujirō, Kurosawa Akira, Robert Bresson, Vasilij Šukšin, Jim Jarmusch, Abbas Kiarostami.
 
Die Retrospektive findet mit Unterstützung der Botschaft von Finnland (Wien) statt.