Die Dinge des Lebens
Claude Sautet / Jacques Becker
10. Mai bis 26. Juni 2023
Claude Sautet (1924–2000) und Jacques Becker (1906–1960) zählen zu den klassischen Regisseuren Frankreichs und wurden sogar als die "französischsten" Filmemacher ihrer Zeit gefeiert: Tatsächlich eint sie über die Generationen hinweg eine Gabe für feinfühlige Menschenbilder und eine "unsichtbare" Meisterschaft des Inszenierens: präzis und pointiert, dabei ganz unaufdringlich in ihrer Gestaltung. In ihren jeweiligen Epochen galten beide als führende filmische Chronisten des bürgerlichen Lebens, dennoch lehnten Teile der gehobenen Kritik viele ihrer Filme beim Erscheinen ab. Bei Sautet gilt das zum Beispiel auch für seine Werke mit Romy Schneider, die ihn international berühmt machten: Dem Welterfolg Les Choses de la vie (Die Dinge des Lebens, 1970) folgten vier weitere Kollaborationen, die Sautets Ruf als sensiblen Porträtisten der Bourgeoisie mitprägten.
Doch obwohl Filme wie César et Rosalie (1972; mit Schneider und Yves Montand) oder Vincent, François, Paul... et les autres (Vincent, François, Paul und die anderen, 1974; mit Montand, Serge Reggiani, Michel Piccoli und Gérard Depardieu) beim großen Publikum Begeisterung auslösten, wurde Sautet gerade wegen seines kommerziellen Erfolgs lange nicht der gebührende Platz unter den führenden Regisseuren seines Landes zuerkannt: Er stand im Schatten der Nouvelle Vague und ihrer Ausläufer, deren prononcierter Kunstwille und ausgestellte Originalität sich heute freilich oft alt ausnehmen gegen Sautets souveräne Zeitlosigkeit.
Seine Verschränkung von populärem Zugang mit einer besonderen Subtilität und Genauigkeit in der Inszenierungskunst wirkte leicht-füßig, war aber hart erarbeitet: Der Detailreichtum in Charakterzeichnung und Milieuschilderung macht seine Filme jenseits ihrer Kraft als Zeitbilder zu universalen Studien des Menschlichen, mit all seinen Stärken und Schwächen ebenso wie mit den ewigen Hoffnungen und Enttäuschungen. Das "Leben an sich" sah sein Regiekollege François Truffaut in Sautets Filmen eingefangen, und darin ist er näher an Filmemachern wie dem großen Japaner Ozu Yasujirō – oder eben Jacques Becker, mit dem Sautet auch jenseits des filmischen Schaffens verblüffend viel verbindet. Das schlug sich zweifellos in ihrem wahl-verwandten Kinowerk nieder, etwa in einer ausgeprägten Liebe für Musik, nicht zuletzt Jazz, oder im Faible für das Hollywoodkino mit seiner erzählerischen Direktheit.
"Ich sehe in Sautet den Sohn von Jacques Becker", hat Regisseur und Filmhistoriker Bertrand Tavernier festgestellt, "diese Verbindung ist bis heute nicht untersucht worden." Unsere Doppel-Retrospektive widmet sich nun erstmals diesem von Sautet in Interviews mehrfach bestätigten Zusammenhang, der auch die Programmierung beeinflusst hat: Jeden Abend gibt es ein Becker-Sautet-Double-Feature, das manchmal eng, manchmal ganz lose in Verbindung steht. Zugleich ist die Schau eine willkommene Gelegenheit, zwei der größten Filmemacher Frankreichs ins Rampenlicht zu stellen, nachdem sie in Wien viel zu lange vernachlässigt blieben.
So wie Sautet filmhistorisch gegen die Nouvelle Vague ausgespielt wurde, blieb Becker im Filmkanon durch einen seiner besten Freunde überschattet: Als Regieassistent (und gelegentlicher Schauspieler) bei Jean Renoir kam er in den 1930ern zum Film und wurde einer von Renoirs Co-Regisseuren für La Vie est á nous (Das Leben gehört uns, 1936), einem bemerkenswerten Dokudrama im Auftrag der Kommunistischen Partei. Die eigentliche Regielaufbahn Beckers begann während der deutschen Besatzung Frankreichs mit Kriminalfilmen wie dem subversiven Meisterstück Goupi Mains Rouges (Eine fatale Familie, 1942). Mit Falbalas (Falbalas – Sein letztes Modell, 1945), einem Drama in der Pariser Modewelt, gelang Becker (der sich indessen in der Résistance engagierte) ein rares realistisches Porträt der Okkupation, zugleich ein Vorgeschmack auf die oft komödiantisch eingefärbten Milieustudien der Nachkriegszeit: Antoine et Antoinette (Zwei in Paris, 1947), Rendez-vous de juillet (Jugend von heute, 1949), Edouard et Caroline (1951) und Rue de l'Estrapade (Liebe im Kreise, 1952) bestachen mit einer Fusion von bewegender Intimität und Detailsicherheit in der Milieuzeichnung, wie sie später ebenso Sautets Hauptwerke prägen; auch Becker begleitete dafür der Ruf, den Zeitgeist um ein junges urbanes Bürgertum einzufangen.
Das heute als chef-d'œuvre anerkannte Historiendrama Casque d'or (Goldhelm, 1952) mit Simone Signoret und Serge Reggiani wurde dagegen ein empfindlicher Flop und leitete Beckers von kommerziellem Druck begleitete Rückkehr zu Genrestoffen ein. Vor seinem frühen Tod an Hämochromatose gelangen ihm Triumphe wie Touchez pas au grisbi (Wenn es Nacht wird in Paris, 1954; mit Jean Gabin) und Le Trou (Das Loch, 1960): Selbst im Krimigewand bestach Beckers Kino dabei durch intensive Lebensnähe, die ein begeisterter Truffaut auf den Punkt brachte: "Was Beckers Figuren widerfährt, zählt weniger als wie es ihnen widerfährt."
Sautets Krimi Classes tous risques (Der Panther wird gehetzt, 1960; mit Lino Ventura und Jean-Paul Belmondo) zeigt dieselben Qualitäten: Durch Beckers Vermittlung (wie bei Le Trou stammt der Stoff vom Autor José Giovanni) gelingt Sautets Einstand als auteur nach Jahren als Regieassistent und "Drehbuchdoktor" – eine Begabung, die ihm auch später ermöglicht, sein Werk unabhängig von finanziellem Druck zu entwickeln und Schaffenskrisen zu überwinden. Mit Les Choses de la vie, der ihn auch mit zentralen Mitarbeiter*innen (Buch: Jean-Loup Dabadie; Kamera: Jean Boffety; Musik: Philippe Sarde; Schnitt: Jacqueline Thiedot) zusammenbringt, findet Sautet ganz zu sich. In Max et les ferrailleurs (Das Mädchen und der Kommissar, 1971) besetzt Sautet sein Starduo Schneider-Piccoli dann gegen den Strich, für eine Sozialstudie im Krimirahmen à la Becker, bevor er seine kritischen Gesellschaftsbilder perfektioniert.
"Ich fühle mich in einer französischen Tradition, die aber von der italienischen Komödie und dem amerikanischen Kino beeinflusst wird", beschreibt Sautet seine Linie, die er u. a. mit feministischem Einschlag in Une histoire simple (Eine einfache Geschichte, 1978; mit Schneider) oder einem Abtauchen in die Welt der Arbeitslosigkeit bei Un mauvais fils (Der ungeratene Sohn, 1980; mit Patrick Dewaere) weiterführte, was ihn jedoch immer weniger befriedigte. Quelques jours avec moi (Einige Tage mit mir, 1988; mit Daniel Auteuil und Sandrine Bonnaire) ist nochmal ein Neubeginn, mit einem letzten Trio, bei dem Sautet die Filme als "eine Musik in sich" komponiert. Wie am Ende von Beckers Karriere führt die Reduktion zu einer sinnlichen Verdichtung, in der sich das spezifische Können des Schöpfers in aller Klarheit zeigt: So wie (posthum) Beckers Le Trou, werden Sautets Un cœur en hiver (Ein Herz im Winter, 1993) und Nelly et Monsieur Arnaud (1995) als meisterhafte Spätwerke anerkannt. In erschütternder Lakonie demonstrieren sie nochmal ein Diktum Sautets, das ebensogut für Becker gilt: "Die Dinge passieren nie so, wie wir es erwarten. Das ist Thema aller meiner Filme." (Christoph Huber)
Mit Einführungen von Christoph Huber und Elisabeth Streit bei ausgewählten Vorstellungen
In Kooperation mit dem Institut français d'Autriche
Claude Sautet (1924–2000) und Jacques Becker (1906–1960) zählen zu den klassischen Regisseuren Frankreichs und wurden sogar als die "französischsten" Filmemacher ihrer Zeit gefeiert: Tatsächlich eint sie über die Generationen hinweg eine Gabe für feinfühlige Menschenbilder und eine "unsichtbare" Meisterschaft des Inszenierens: präzis und pointiert, dabei ganz unaufdringlich in ihrer Gestaltung. In ihren jeweiligen Epochen galten beide als führende filmische Chronisten des bürgerlichen Lebens, dennoch lehnten Teile der gehobenen Kritik viele ihrer Filme beim Erscheinen ab. Bei Sautet gilt das zum Beispiel auch für seine Werke mit Romy Schneider, die ihn international berühmt machten: Dem Welterfolg Les Choses de la vie (Die Dinge des Lebens, 1970) folgten vier weitere Kollaborationen, die Sautets Ruf als sensiblen Porträtisten der Bourgeoisie mitprägten.
Doch obwohl Filme wie César et Rosalie (1972; mit Schneider und Yves Montand) oder Vincent, François, Paul... et les autres (Vincent, François, Paul und die anderen, 1974; mit Montand, Serge Reggiani, Michel Piccoli und Gérard Depardieu) beim großen Publikum Begeisterung auslösten, wurde Sautet gerade wegen seines kommerziellen Erfolgs lange nicht der gebührende Platz unter den führenden Regisseuren seines Landes zuerkannt: Er stand im Schatten der Nouvelle Vague und ihrer Ausläufer, deren prononcierter Kunstwille und ausgestellte Originalität sich heute freilich oft alt ausnehmen gegen Sautets souveräne Zeitlosigkeit.
Seine Verschränkung von populärem Zugang mit einer besonderen Subtilität und Genauigkeit in der Inszenierungskunst wirkte leicht-füßig, war aber hart erarbeitet: Der Detailreichtum in Charakterzeichnung und Milieuschilderung macht seine Filme jenseits ihrer Kraft als Zeitbilder zu universalen Studien des Menschlichen, mit all seinen Stärken und Schwächen ebenso wie mit den ewigen Hoffnungen und Enttäuschungen. Das "Leben an sich" sah sein Regiekollege François Truffaut in Sautets Filmen eingefangen, und darin ist er näher an Filmemachern wie dem großen Japaner Ozu Yasujirō – oder eben Jacques Becker, mit dem Sautet auch jenseits des filmischen Schaffens verblüffend viel verbindet. Das schlug sich zweifellos in ihrem wahl-verwandten Kinowerk nieder, etwa in einer ausgeprägten Liebe für Musik, nicht zuletzt Jazz, oder im Faible für das Hollywoodkino mit seiner erzählerischen Direktheit.
"Ich sehe in Sautet den Sohn von Jacques Becker", hat Regisseur und Filmhistoriker Bertrand Tavernier festgestellt, "diese Verbindung ist bis heute nicht untersucht worden." Unsere Doppel-Retrospektive widmet sich nun erstmals diesem von Sautet in Interviews mehrfach bestätigten Zusammenhang, der auch die Programmierung beeinflusst hat: Jeden Abend gibt es ein Becker-Sautet-Double-Feature, das manchmal eng, manchmal ganz lose in Verbindung steht. Zugleich ist die Schau eine willkommene Gelegenheit, zwei der größten Filmemacher Frankreichs ins Rampenlicht zu stellen, nachdem sie in Wien viel zu lange vernachlässigt blieben.
So wie Sautet filmhistorisch gegen die Nouvelle Vague ausgespielt wurde, blieb Becker im Filmkanon durch einen seiner besten Freunde überschattet: Als Regieassistent (und gelegentlicher Schauspieler) bei Jean Renoir kam er in den 1930ern zum Film und wurde einer von Renoirs Co-Regisseuren für La Vie est á nous (Das Leben gehört uns, 1936), einem bemerkenswerten Dokudrama im Auftrag der Kommunistischen Partei. Die eigentliche Regielaufbahn Beckers begann während der deutschen Besatzung Frankreichs mit Kriminalfilmen wie dem subversiven Meisterstück Goupi Mains Rouges (Eine fatale Familie, 1942). Mit Falbalas (Falbalas – Sein letztes Modell, 1945), einem Drama in der Pariser Modewelt, gelang Becker (der sich indessen in der Résistance engagierte) ein rares realistisches Porträt der Okkupation, zugleich ein Vorgeschmack auf die oft komödiantisch eingefärbten Milieustudien der Nachkriegszeit: Antoine et Antoinette (Zwei in Paris, 1947), Rendez-vous de juillet (Jugend von heute, 1949), Edouard et Caroline (1951) und Rue de l'Estrapade (Liebe im Kreise, 1952) bestachen mit einer Fusion von bewegender Intimität und Detailsicherheit in der Milieuzeichnung, wie sie später ebenso Sautets Hauptwerke prägen; auch Becker begleitete dafür der Ruf, den Zeitgeist um ein junges urbanes Bürgertum einzufangen.
Das heute als chef-d'œuvre anerkannte Historiendrama Casque d'or (Goldhelm, 1952) mit Simone Signoret und Serge Reggiani wurde dagegen ein empfindlicher Flop und leitete Beckers von kommerziellem Druck begleitete Rückkehr zu Genrestoffen ein. Vor seinem frühen Tod an Hämochromatose gelangen ihm Triumphe wie Touchez pas au grisbi (Wenn es Nacht wird in Paris, 1954; mit Jean Gabin) und Le Trou (Das Loch, 1960): Selbst im Krimigewand bestach Beckers Kino dabei durch intensive Lebensnähe, die ein begeisterter Truffaut auf den Punkt brachte: "Was Beckers Figuren widerfährt, zählt weniger als wie es ihnen widerfährt."
Sautets Krimi Classes tous risques (Der Panther wird gehetzt, 1960; mit Lino Ventura und Jean-Paul Belmondo) zeigt dieselben Qualitäten: Durch Beckers Vermittlung (wie bei Le Trou stammt der Stoff vom Autor José Giovanni) gelingt Sautets Einstand als auteur nach Jahren als Regieassistent und "Drehbuchdoktor" – eine Begabung, die ihm auch später ermöglicht, sein Werk unabhängig von finanziellem Druck zu entwickeln und Schaffenskrisen zu überwinden. Mit Les Choses de la vie, der ihn auch mit zentralen Mitarbeiter*innen (Buch: Jean-Loup Dabadie; Kamera: Jean Boffety; Musik: Philippe Sarde; Schnitt: Jacqueline Thiedot) zusammenbringt, findet Sautet ganz zu sich. In Max et les ferrailleurs (Das Mädchen und der Kommissar, 1971) besetzt Sautet sein Starduo Schneider-Piccoli dann gegen den Strich, für eine Sozialstudie im Krimirahmen à la Becker, bevor er seine kritischen Gesellschaftsbilder perfektioniert.
"Ich fühle mich in einer französischen Tradition, die aber von der italienischen Komödie und dem amerikanischen Kino beeinflusst wird", beschreibt Sautet seine Linie, die er u. a. mit feministischem Einschlag in Une histoire simple (Eine einfache Geschichte, 1978; mit Schneider) oder einem Abtauchen in die Welt der Arbeitslosigkeit bei Un mauvais fils (Der ungeratene Sohn, 1980; mit Patrick Dewaere) weiterführte, was ihn jedoch immer weniger befriedigte. Quelques jours avec moi (Einige Tage mit mir, 1988; mit Daniel Auteuil und Sandrine Bonnaire) ist nochmal ein Neubeginn, mit einem letzten Trio, bei dem Sautet die Filme als "eine Musik in sich" komponiert. Wie am Ende von Beckers Karriere führt die Reduktion zu einer sinnlichen Verdichtung, in der sich das spezifische Können des Schöpfers in aller Klarheit zeigt: So wie (posthum) Beckers Le Trou, werden Sautets Un cœur en hiver (Ein Herz im Winter, 1993) und Nelly et Monsieur Arnaud (1995) als meisterhafte Spätwerke anerkannt. In erschütternder Lakonie demonstrieren sie nochmal ein Diktum Sautets, das ebensogut für Becker gilt: "Die Dinge passieren nie so, wie wir es erwarten. Das ist Thema aller meiner Filme." (Christoph Huber)
Mit Einführungen von Christoph Huber und Elisabeth Streit bei ausgewählten Vorstellungen
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Zusätzliche Materialien
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