Point Blank, 1967, John Boorman
Catch Us If You Can

John Boorman

5. September bis 17. Oktober 2024

Zum Saisonauftakt würdigen wir mit dem Briten John Boorman (*1933) einen der großen Visionäre des Kinos. Pendelnd zwischen seiner Heimat und Hollywood schuf Boorman legendäre Klassiker wie den Krimi Point Blank (1967), den Abenteuerfilm Deliverance (1972), das Fantasy-Epos Excalibur (1980) oder die autobiografisch inspirierte Tragikomödie Hope and Glory (1987). Dabei gelang es ihm nicht nur wiederholt, Genres zu erneuern, während er seinen sehr persönlichen Zugang in die Anforderungen des kommerziellen Kinos schmuggelte – getreu seinem poetischen Motto "Filme sollten Gedichte sein und keine Romane."
 
Somit gehört Boorman auch nicht zur dominanten realistischen Tradition des britischen Kinos, wie sie von seinen Zeitgenossen Ken Loach und Mike Leigh praktiziert wird, sondern er reiht sich in eine faszinierende englische Außenseiter-Linie, die auf eines von Boormans großen Kino-Idolen zurückgeht: Michael Powell, der – meist zusammen mit Emeric Pressburger – eine Reihe von fantastischen Filmen schuf, die mit verblüffendem Einfallsreichtum neue erzählerische Potenziale erschlossen. Boorman zelebrierte die mythopoetische Kraft dieses Zugangs im populären Kino einer späteren Epoche: Seine scharf gezeichneten Welt-Bilder setzen nicht auf Naturalismus, sondern erzeigen eine schillernde Intensität, die oft einen Zug ins Surreale hat.
 
Seine Laufbahn begann zunächst beim Fernsehen: Nach einer vom Weltkrieg geprägten Kindheit, der er mit Hope and Glory ein typisch ikonoklastisches Denkmal setzte, und dem Militärdienst, der den Hintergrund seines vernachlässigten letzten Films Queen and Country (2014) bildet, wurde Boorman 1955 zuerst bei einem Regionalsender angestellt. Sein innovativer und erfolgreicher Zugang zur TV-Produktion trug ihm Anfang der 1960er die Beförderung zum Chef einer Dokumentarfilm-Abteilung der BBC ein, wobei er rasch an die Grenzen der Form stieß. Mit seinem Kino-Einstand Catch Us If You Can (1965) konnte er vollends zur Fiktion übergehen, zumal seine aufsehenerregenden Fernseharbeiten das Interesse von Produzenten geweckt hatten. Boormans Debüt war vom Erfolg der Beatles-Filme inspiriert: Um die damals ähnlich erfolgreiche Dave Clark Five sollte ein ähnliches komödiantisches Pop-Entertainment entstehen, doch Boormans spitzte die Satire weiter zu. Seine desillusionierte Auseinandersetzung mit der Gesellschaft des Spektakels lieferte einen Vorgeschmack auf die prononcierte Zivilisationskritik, die sich durch sein gesamtes Werk zieht.
 
Sie setzte sich bei seinem Sprung nach Übersee nahtlos fort: Durch das instinktive Vertrauen des frisch Oscar-gekrönten Stars Lee Marvin, mit dem er bis zu dessen Tod eng befreundet blieb, wurde Boorman der Hollywood-Einstand ermöglicht. "Point Blank entstand nach einem Pulp-Thriller, den ich folterte, bis er einer existenziellen Traumwelt glich", beschrieb der Regisseur rückblickend die Entstehung dieser Neo-Noir-Pionierarbeit, bei der er nur dank Marvins Unterstützung seinen Zugang gegen Studio-Widerstand durchsetzen konnte. Die kühne Genre-Revision durch eine ausgeprägte Autorenhandschrift machte Point Blank zu einer Initialzündung für die hereinbrechende New-Hollywood-Ära, während in Marvins Verkörperung der Hauptfigur (mit dem sprechenden Namen Walker) der ambivalente Boorman-Protagonist kraftvoll Gestalt annahm: Im Rachefeldzug gegen ein übermächtiges Syndikat muss Walker am Ende die Hybris und die Sinnlosigkeit seines Unterfangens erkennen. Eine Art vergeblicher Gralssuche bleibt das Schicksal von Boormans Antihelden: Die Verbundenheit mit der Natur und den Elementen und die Faszination für archetypische Mythen hatten Boorman schon in jungen Jahren zur Artus-Sage geführt, die er mit Excalibur schließlich triumphal für das Kino adaptieren würde und die darüber hinaus seinen Zugang zu anderen Filmstoffen prägte.
 
So bildeten Marvins eigene Weltkriegserfahrungen eine wichtige Inspiration für die nächste Zusammenarbeit Hell in the Pacific (1968), aber es war Boormans charakteristische Vision, die aus dem einsamen Duell zweier versprengter Soldaten (Kontrahent: Mifune Toshiro) ein Beckett'sches Endspiel vor berauschender Pazifik-Insel-Landschaft macht. Die Universalität von Boormans kritischem Ansatz fand in der Folge ganz unterschiedliche Ausprägungen: In der tragikomischen Gesellschaftssatire Leo the Last (1970) strandet Marcello Mastroianni als weltfremder Aristokrat in den Londoner Slums, im verstörenden Meisterwerk Deliverance wollen vier Großstädter – gespielt u.a. von Burt Reynolds und Jon Voight – mit Kanus einen reißenden Fluss bezwingen, bevor dieser für einen Stausee eingedämmt wird. In der Konfrontation mit der Wildheit der Natur und ihrer Bewohner wird der Hochmut der "Zivilisation" gebrochen: Der auf gewagte Metaphern spezialisierte Boorman stellt dabei die Vergewaltigung eines der Möchtegern-Abenteurer der Vergewaltigung der Natur gegenüber. Boormans bewusster Tabubruch ging auch wegen seiner besonderen Gabe auf, Gewalt ohne die im kommerziellen Kino handelsübliche Beschönigung zu zeigen, zugleich manifestierte sich darin das ökologische Interesse, das sich durchs gesamte Œuvre zieht.
 
Boormans Welterfolg mit Deliverance folgten zwei überambitionierte Flops, die freilich nunmehr Kultstatus genießen. Im bizarren Science-Fiction-Film Zardoz (1973) mit Sean Connery und Charlotte Rampling imaginierte Boorman eine Zukunftswelt, in der die Unsterblichkeit einer elitären Menschheit alle Vitalität geraubt hat. Exorcist II: The Heretic (1977) mit Richard Burton und Linda Blair sah Boorman nicht als Fortsetzung, sondern als Antwort auf The Exorcist (1973), dessen Regie er abgelehnt hatte und dem er nunmehr "einen Film über das Gute statt über das Böse" folgen ließ, womit er alle Erwartungen enttäuschte. Beide Werke sind inzwischen längst als eigenwillige fantastische Visionen rehabilitiert: Neben Boormans persönlicher Handschrift bestechen sie auch mit ungewöhnlichen Spezialeffekten, deren Grundideen Boorman für ein Projekt entwickelt hatte, das sich nicht finanzieren ließ – eine Adaption von J.R.R. Tolkiens Lord of the Rings.
 
In seiner Autobiografie merkt Boorman an, dass das Werk eines Regisseurs eigentlich genauso stark durch die Filme definiert ist, die er nicht machen konnte, wie durch diejenigen, die tatsächlich existieren. Auch wenn Traumprojekte die Tolkien-Adaption (oder der passend betitelte Originalstoff Broken Dream, den er über Jahrzehnte verfolgte) unrealisiert blieben, so konnte Boorman doch viele seiner Ideen dazu in anderen Filmen unterbringen: Mit Excalibur erreichte er in dieser Hinsicht einen Kulminationspunkt und vollbrachte zugleich das Kunststück, beinahe die Gesamtheit seines geliebten Arthur-Mythos auf zweieinhalb Stunden zu verdichten. Dass der Zauberer Merlin dabei zur eigentlichen Hauptfigur wird, verrät ebenfalls viel über den Schöpfer: In der Zauberkunst des Kinos spiegelt sich die Kraft der Magier in der Sagenwelt – und diejenige der Schamanen bei Naturvölkern wie in The Emerald Forest (1985). Boorman machte Irland, wo er Excalibur drehte, zu seiner Wahlheimat und gründete dort eine Produktionsfirma namens Merlin Films.
 
Nicht zuletzt wurde Irland auch ein weiteres wichtiges Standbein für Boormans Filmschaffen. "Ein britischer Regisseur steht vor der Wahl, daheimzubleiben und kleine Filme zu machen oder nach Hollywood zu gehen und große zu machen – oder ein wenig von beidem zu versuchen, so wie ich es gemacht habe. Dabei gibt es jedenfalls keine Sicherheit oder Kontinuität. Unsere Leben werden an Filme vergeudet, an deren Umsetzung wir scheitern", schrieb Boorman in seiner ersten Autobiografie Adventures of a Suburban Boy (2003). Nachdem er mit The Emerald Forest seine ökologischen Anliegen in einen packenden Regenwald-Abenteuerfilm übersetzte und mit Hope and Glory nochmal einen Welterfolg feierte, wurde die nach New York transponierte Familienkomödie Where the Heart Is ... (1990) zu einer Art Knackpunkt: "Das Problem ist, dass es noch immer ein Boorman-Film ist und kein Disney-Film", sagte der damalige Disney-Chef Jeffrey Katzenberg – der perfekte Ausdruck einer neoliberalen Kino-Ära, in der das Management zusehends nach kommerzieller Optimierung trachtete und sukzessive jene künstlerische Freiheiten eliminierte, die Boorman im Zeitalter von New Hollywood kennengelernt hatte.
 
Trotz erschwerter Bedingungen und vergleichsweise geringerer Budgets büßte Boormans Filmschaffen in den letzten zwei Dekaden aber nichts an Qualität und Originalität ein. So wandte er sich mit dem Myanmar-Politthriller Beyond Rangoon (1995) mit Patricia Arquette oder dem Drama In My Country (2004) mit Juliette Binoche und Samuel L. Jackson über die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission wandte er sich zeitgenössischen politischen Stoffen zu und erzählte in The General (1998) die Geschichte eines sagenumwobenen irischen Gangster-Volkshelden, was ihm seinen zweiten Cannes-Regiepreis nach Leo, the Last eintrug und seinen Hauptdarsteller Brendan Gleeson international berühmt machte. Dabei kombinierte Boorman die Thriller-Aspekte mit einem Sinn für absurden Humor, der sich gerade im Spätwerk immer stärker als Ausdruck seiner surrealistischen Vision einschrieb: In The Tailor of Panama (2001) mit Pierce Brosnan und Jamie Lee Curtis – der vielleicht gelungensten Kinoverfilmung eines John le Carré-Romans – ebenso wie in der irischen Doppelgänger-Fabel The Tiger's Tail (2007) mit Gleeson.
 
Mit Queen and Country führte er schließlich den gewitzten autobiografischen Zugang von Hope and Glory fort. An der Oberfläche scheint Boormans letzte Arbeit wieder ein leichtfüßiger Schlüsselfilm, doch steigen dazwischen die dunklen und mythischen Elemente an die Oberfläche, die Boormans Werk prägten, bevor das Schlussbild eine surrende Kamera zeigt: die perfekte Abschiedsgeste eines cinephilen Filmemachers, der immer wieder neue Herausforderungen und denkwürdige Bilder gesucht hat, um die poetische Magie des Mediums zu erforschen und vertiefen. "Film ist wie eine Fremdsprache", so Boorman: "Leicht zu verstehen, aber schwierig zu sprechen." (Christoph Huber)