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Mi, 10. September 2025
Harry Tomicek, 1945 – 2025
Das Österreichische Filmmuseum trauert um Harry Tomicek, der über Jahrzehnte hinweg als Autor und Gelehrter unser Haus begleitet hat und am 8. September 2025 verstorben ist.
Harry Tomicek studierte Philosophie in Wien und promovierte 1976 mit der Arbeit Metaphysik und Nichts: ein Durchgang und Verlassen der Metaphysik Kants auf der Fragespur nach dem Nichts. Diese gedankliche Offenheit prägte auch sein Verhältnis zum Kino: Er verstand Film nicht als bloßen Gegenstand der Analyse, sondern als Ereignis, das in seiner ganzen Unmittelbarkeit erlebt und erinnert werden muss. Seit den 1970er Jahren war er mit dem Österreichischen Filmmuseum eng verbunden. Er war Autor zahlreicher Publikationen für unser Haus: Von Jean Eustache (1977) bis Yasujirō Ozu (1988), von Humphrey Jennings (1989) zu Robert Gardner (1991) spannte er Bögen, die von Präzision durchdrungen und erhellend waren.
Seine Texte zu den Programmen des Hauses gelten bis heute als eindrucksvolle Beispiele wie über das Medium Film nachgedacht und geschrieben werden kann. Seit Jahrzehnten haben seine Miniaturen nicht nur die Sehgewohnheiten unseres Publikums mitgeprägt, für Generationen von Filmliebhaber*innen hatten sie die Wirkung "unumstößlicher" Gesetze. Tomicek war kein Kritiker im klassischen Sinn: Seine Essays erschließen keine fertigen Deutungen, sondern laden zu neuen Sichtweisen ein und umkreisen die Filme mit seiner charakteristischen poetischen Sprachleidenschaft. So entstanden über vier Jahrzehnte Beiträge, die als Publikationen wie Was ist Film (2010, FilmmuseumSynemaPublikationen) oder in der Anthologie Meine Reisen durch den Film, 1886–2019 (2020 im Klever Verlag) erschienen sind. Er hat wiederholt verdeutlicht, dass Filmgeschichte nicht als Kanon, sondern als persönliche, von Begegnungen geprägte Reise erfahren werden kann. Harry Tomicek über sich selbst:
"Als dann das Filmmuseum in der Albertina, wie man sagt, Heimstatt bezogen hat, sind es hunderte, vielmehr tausende Stunden gewesen, die er in der Camera obscura dieses Orts zugebracht hat: Stunden, solche seines Lebens, und er ist sich angesichts jener, die gezählt sind, und des Lebens, das bemessen ist, nicht wirklich im Klaren darüber, ob es nicht zu viele, maßlos zu viele gewesen sind. Aber er ist auf dem Lichtstrahl des Projektors wie auf Aladins Teppich zum Musikzimmer des Zamindar von Nimtita geflogen und hat gebannt und gerührt auf der tatami neben Ryū Chishū und Hara Setsuko Platz genommen. Er ist – vor und dennoch in seiner Zeit – im kinematographischen Kahn Renoirs auf den weichen Wellen der silberweiß glänzenden, Wolken widerspiegelnden Seine zur Liebesinsel Kythera gerudert. Er hat mit den Augen der jungen, morgens die Jalousien öffnenden Frau geblinzelt, geblendet vom Licht der Sonne und dem glückseligen Furor der Vertov'schen Wundermaschine kinoapparatom. Er hat die Äpfel Dovženkos im Regen wie jene der Hesperiden leuchten gesehen. Er hat die Schatten von Vampyr durchquert. Er hat nach Ordet gelobt, nie auch nur ein Wort über das zu veräußern, was Ordet in ihm ausgelöst hat. Er hat als Zuschauer also Jahre seines Daseins ans Filmmuseum verschwendet, um andere zu gewinnen, die sich erfüllt haben." (in: Das sichtbare Kino, S. 27–28, Wien 2014)
Neben seiner publizistischen Tätigkeit war er auch in der Lehre präsent – an der Schule für künstlerische Fotografie in Wien sowie an den Universitäten Wien und Salzburg. Auch als Filmemacher hinterließ er ein eigenständiges Werk, darunter Das blaue Band (2006–2011), Der Zug ein Leben (1999–2012) und Porträt Stanislas T. (1997–2013).
Mit Harry Tomicek verliert das Österreichische Filmmuseum einen über die Jahrzehnte engen Weggefährten und die Filmkultur dieser Stadt eine unverwechselbare Stimme. Im Österreichischen Filmmuseum bleibt er unvergessen.
English version
His program notes still remain impressive examples of how to think and write about the medium of film. For decades, his miniatures not only left a mark on our audiences' visual habits, for generations of film lovers they have had the force of "irrefutable" laws. Tomicek was not a critic in the classical sense: His essays do not decipher ready-made interpretations, but instead invite new ways of seeing, circling around films with his characteristically poetic passion for language. For four decades, he produced articles that appeared in publications such as Was ist Film (2010, FilmmuseumSynemaPublikationen) and the anthology Meine Reisen durch den Film, 1886–2019 (2020, Klever Verlag). He repeatedly made it clear that it is possible to experience film history not as canon, but instead as a personal journey marked by encounters.
Alongside his writing, he was also present as a teacher – at the School for Artistic Photography in Vienna as well as the universities of Vienna and Salzburg. He also leaves behind an original body of work as a filmmaker, including Das blaue Band (The Blue Ribbon, 2006–2011), Der Zug ein Leben (The Train, A Life, 1999–2012), and Porträt Stanislas T. (Portrait of Stanislas T., 1997–2013).
With Harry Tomicek, the Austrian Film Museum loses a decades-long companion and the city's film culture an inimitable voice. At the Austrian Film Museum, he will not be forgotten.
Harry Tomicek studierte Philosophie in Wien und promovierte 1976 mit der Arbeit Metaphysik und Nichts: ein Durchgang und Verlassen der Metaphysik Kants auf der Fragespur nach dem Nichts. Diese gedankliche Offenheit prägte auch sein Verhältnis zum Kino: Er verstand Film nicht als bloßen Gegenstand der Analyse, sondern als Ereignis, das in seiner ganzen Unmittelbarkeit erlebt und erinnert werden muss. Seit den 1970er Jahren war er mit dem Österreichischen Filmmuseum eng verbunden. Er war Autor zahlreicher Publikationen für unser Haus: Von Jean Eustache (1977) bis Yasujirō Ozu (1988), von Humphrey Jennings (1989) zu Robert Gardner (1991) spannte er Bögen, die von Präzision durchdrungen und erhellend waren.
Seine Texte zu den Programmen des Hauses gelten bis heute als eindrucksvolle Beispiele wie über das Medium Film nachgedacht und geschrieben werden kann. Seit Jahrzehnten haben seine Miniaturen nicht nur die Sehgewohnheiten unseres Publikums mitgeprägt, für Generationen von Filmliebhaber*innen hatten sie die Wirkung "unumstößlicher" Gesetze. Tomicek war kein Kritiker im klassischen Sinn: Seine Essays erschließen keine fertigen Deutungen, sondern laden zu neuen Sichtweisen ein und umkreisen die Filme mit seiner charakteristischen poetischen Sprachleidenschaft. So entstanden über vier Jahrzehnte Beiträge, die als Publikationen wie Was ist Film (2010, FilmmuseumSynemaPublikationen) oder in der Anthologie Meine Reisen durch den Film, 1886–2019 (2020 im Klever Verlag) erschienen sind. Er hat wiederholt verdeutlicht, dass Filmgeschichte nicht als Kanon, sondern als persönliche, von Begegnungen geprägte Reise erfahren werden kann. Harry Tomicek über sich selbst:
"Als dann das Filmmuseum in der Albertina, wie man sagt, Heimstatt bezogen hat, sind es hunderte, vielmehr tausende Stunden gewesen, die er in der Camera obscura dieses Orts zugebracht hat: Stunden, solche seines Lebens, und er ist sich angesichts jener, die gezählt sind, und des Lebens, das bemessen ist, nicht wirklich im Klaren darüber, ob es nicht zu viele, maßlos zu viele gewesen sind. Aber er ist auf dem Lichtstrahl des Projektors wie auf Aladins Teppich zum Musikzimmer des Zamindar von Nimtita geflogen und hat gebannt und gerührt auf der tatami neben Ryū Chishū und Hara Setsuko Platz genommen. Er ist – vor und dennoch in seiner Zeit – im kinematographischen Kahn Renoirs auf den weichen Wellen der silberweiß glänzenden, Wolken widerspiegelnden Seine zur Liebesinsel Kythera gerudert. Er hat mit den Augen der jungen, morgens die Jalousien öffnenden Frau geblinzelt, geblendet vom Licht der Sonne und dem glückseligen Furor der Vertov'schen Wundermaschine kinoapparatom. Er hat die Äpfel Dovženkos im Regen wie jene der Hesperiden leuchten gesehen. Er hat die Schatten von Vampyr durchquert. Er hat nach Ordet gelobt, nie auch nur ein Wort über das zu veräußern, was Ordet in ihm ausgelöst hat. Er hat als Zuschauer also Jahre seines Daseins ans Filmmuseum verschwendet, um andere zu gewinnen, die sich erfüllt haben." (in: Das sichtbare Kino, S. 27–28, Wien 2014)
Neben seiner publizistischen Tätigkeit war er auch in der Lehre präsent – an der Schule für künstlerische Fotografie in Wien sowie an den Universitäten Wien und Salzburg. Auch als Filmemacher hinterließ er ein eigenständiges Werk, darunter Das blaue Band (2006–2011), Der Zug ein Leben (1999–2012) und Porträt Stanislas T. (1997–2013).
Mit Harry Tomicek verliert das Österreichische Filmmuseum einen über die Jahrzehnte engen Weggefährten und die Filmkultur dieser Stadt eine unverwechselbare Stimme. Im Österreichischen Filmmuseum bleibt er unvergessen.
English version
Harry Tomicek, 1945 – 2025
The Austrian Film Museum mourns the loss of Harry Tomicek, who was a close collaborator of our institution for decades as an author and scholar and who passed away on September 8, 2025. Tomicek studied philosophy in Vienna and received a PhD in 1976 for his dissertation Metaphysik und Nichts: ein Durchgang und Verlassen der Metaphysik Kants auf der Fragespur nach dem Nichts (Metaphysics and Nothingness: A Passageway and Abandoning of Kant's Metaphysics on the Trail of the Question of Nothingness]. This theoretical openness also marked his relationship to cinema: He understood film not as a mere object of analysis, but as an event which must be experienced and remembered in its full immediacy. He had been closely tied to the Austrian Film Museum since the 1970s. He was the author of many publications for our institution: From Jean Eustache (1977) to Yasujirō Ozu (1988), from Humphrey Jennings (1989) to Robert Gardner (1991), he drew connections that were illuminating and imbued with precision.His program notes still remain impressive examples of how to think and write about the medium of film. For decades, his miniatures not only left a mark on our audiences' visual habits, for generations of film lovers they have had the force of "irrefutable" laws. Tomicek was not a critic in the classical sense: His essays do not decipher ready-made interpretations, but instead invite new ways of seeing, circling around films with his characteristically poetic passion for language. For four decades, he produced articles that appeared in publications such as Was ist Film (2010, FilmmuseumSynemaPublikationen) and the anthology Meine Reisen durch den Film, 1886–2019 (2020, Klever Verlag). He repeatedly made it clear that it is possible to experience film history not as canon, but instead as a personal journey marked by encounters.
Alongside his writing, he was also present as a teacher – at the School for Artistic Photography in Vienna as well as the universities of Vienna and Salzburg. He also leaves behind an original body of work as a filmmaker, including Das blaue Band (The Blue Ribbon, 2006–2011), Der Zug ein Leben (The Train, A Life, 1999–2012), and Porträt Stanislas T. (Portrait of Stanislas T., 1997–2013).
With Harry Tomicek, the Austrian Film Museum loses a decades-long companion and the city's film culture an inimitable voice. At the Austrian Film Museum, he will not be forgotten.