Darling, 1965, John Schlesinger

England's Dreaming
Das britische Kino der 60er Jahre

7. Februar bis 7. März 2013
 
Die britische Filmkultur kämpft seit jeher mit ­einem gewissen Minderwertigkeitsgefühl, sowohl gegenüber dem gleichsprachigen, aber weit­aus einflussreicheren US-Kino als auch gegenüber der Kunstfilm-Tradition auf dem Kontinent. François Truffauts Diktum aus den frühen 1960er Jahren wird von britischen Filmleuten gerne masochistisch wiederholt: Irgendwie sei Großbritan­nien, so Truffaut in seinem Gespräch mit Alfred Hitchcock, doch ein „filmfeindliches“ Gelände – „Man könnte sich fragen, ob nicht die Begriffe ‚Kino‘ und ‚England‘ eigentlich unvereinbar sind.“
 
Abgesehen vom flapsigen Chauvinismus, der hier durchscheint, ist vor allem der Zeitpunkt von Truffauts Ausspruch interessant – und paradox. Denn im Konzert mit der britischen Musik-, Mode- und Kunstproduktion war das Kino Englands damals, im August 1962, drauf und dran, die Rolle des kulturellen Hauptmotors in Europa zu übernehmen –  bald auch mit „Swinging London“ als global ausstrahlendem Signet.
 
Die für die britische Nachkriegsära kennzeichnende „Ethik des Mangels“ hatte sich in den späten 50er und frühen 60er Jahren in eine expansive Konsumkultur verwandelt, die lang gehegte Träume unmittelbar zu erfüllen schien: rasch steigender Wohlstand samt wachsendem Individualismus, Auflösung starrer Klassen- und Fami­lienstrukturen, immenser technologischer Fortschritt, Globalisierung der Kommunikation (vom Fernsehen bis zum Flugverkehr), sexuelle und rechtliche Liberalisierung ... Eine Art Real-Fantasie also, in der die tatsächliche Verbesserung der Lebens- und Freiheitsbedin­gungen vieler Menschen mit einem medial forcierten Selbstbetrug einher ging. Eine Dekade später, um 1970, waren Erschöpfung und Desillusionierung angesagt. Je nach ideologischem Standpunkt wurden nun der Abbruch des Wirtschaftsbooms, die abgesagte ­Revolution oder die verkommenen Mores der Jugend betrauert. „The dream has come true“, schreibt Christopher Booker 1969, „and the real fruit of the era lies in the fact that, as never before, its hollowness has been exposed.“
 
Vor diesem Hintergrund ist es, wie üblich bei (Alp-)Träumen, eher ein zersplittertes Bild, das der Ära am nächsten kommt. England in den 1960ern ist eine Mehrfachbelichtung oder ein Split Screen-­Arrangement: Free Cinema und Beatles-Wahnsinn; James Bond und das Committee for Nuclear Disarmament; Ken Loachs sozialistisches Dokudrama mit Massenappeal (Cathy Come Home) und, zur selben Zeit im selben BBC-Programm, das absurde Pop-Artefakt The Avengers („Mit Schirm, Charme und Melone“). Aufstiegs­fantasien wie jene in John Schlesingers Darling oder der herrlichen Komödie Nothing But the Best von Clive Donner wohnen Seite an Seite mit solch unterschiedlichen Endzeitvisionen wie The War Game oder The Day the Earth Caught Fire. Die grandiose Verdichtung einer langen Regiekarriere wie jener von Joseph Losey findet im selben „unreinen“ Kino statt wie das Aufglühen dunkel-genia­lischer Sternschnuppen (Michael Reeves: Witchfinder General) – zwischen Hammer-Horror und Kunstambition.
 
Die moderne Zersplitterung und, auf der anderen Seite, die gattungsübergreifende Unreinheit sind wesentliche Kennzeichen für das britische Filmschaffen dieser Jahre. Die zerstückelte Zeit, das Erzählen in Knoten aus Erinnerung und Vorahnung, erfährt in Werken wie Loseys Accident, Antonionis Blow Up und der Existenztausch-Parabel Performance seine sinnstiftendsten und beunruhigendsten Verdichtungen. Losey und Antonioni waren nicht die einzigen Ausländer, die zu solchem Brit-Modernismus beitrugen. In anderer Weise taten dies auch die Polen Roman Polanski und Jerzy Skolimowski (mit Deep End) und, in einer echten Pop-Variante, der Amerikaner Richard Lester (A Hard Day’s Night und The Knack ...and how to get it).
 
Exakt zeitgleich mit The Knack (1965) trat das andere Schlüsselwerk der Ära hervor, das die „unreinen“ Qualitäten der britischen Film­branche am schönsten in sich vereint. Polanskis Repulsion wurde im Hintergrund, also uncredited, von Michael Klinger und Tony Tenser produziert, zwei Exploitation-Königen mit besten Verbindungen zur Unterwelt (Gangster wie die Kray Brothers waren damals ein wichtiger Faktor im britischen Glamour- und Medien­milieu). Für die Erkundung der Abgründe einer neuen Untermittelschicht holten sich Klinger & Tenser aber nicht einen ihrer B-Picture-Klienten, sondern eben den smartesten Vertreter der jungen polnischen Welle – und dazu noch eine echte französische Kino-Göttin: Catherine Deneuve.
 
The Knack und Repulsion bilden die Mitte eines kanonischen ­Bogens. Er spannt sich von den Angry Young Men des Wirtschaftsbooms um 1960, die der Arbeiterklasse Adieu sagen wollen – Laurence Harvey in Room at the Top, Albert Finney in Saturday Night and Sunday Morning oder Richard Harris in This Sporting Life – bis hin zu einem Land in (psychischen) Trümmern, wie es Ken ­Loach in seinem von R. D. Laing inspirierten Film über die Familie als Schlachtfeld schmerzhaft vorführt (Family Life, 1971). Dazwischen liegt jedoch eine reiche, vielfältige Landschaft vergessener Kleinode, die auch in England selbst erst seit kurzem wieder leuchten. Die proletarische Theatermacherin Joan Littlewood z. B. ist für viele eine Ikone, aber ihre einzige Kinoregie Sparrows Can’t Sing stand lange im Abseits, ebenso wie der aus ihren Workshops ­hervorgegangene Bronco Bullfrog von Barney Platts-Mills, dessen improvisatorischer Naturalismus um 1970 in einem Atemzug mit Mike Leigh und Ken Loach genannt wurde.
 
Am anderen Ende des Spektrums, im Genrekino, lässt sich Ähnliches konstatieren, z. B. anhand von John Guillermins ­Never Let Go und Wolf Rillas Hauptwerk The World Ten Times Over. Guillermin, ein harter Krimi- und Action-Realist, erweist sich hier als ausgezeichneter Beobachter der Ängste eines Angestelltenmilieus, das den Traum vom kleinen besseren Leben notfalls auch mit Gewalt verteidigt. Bei den jungen „Animierdamen“ in The World Ten Times Over ist dieser Traum schon nicht mehr haltbar. Die ­feine Direktheit, der anti-patriarchale Oberton und die lesbischen Untertöne, die Wolf Rilla zur Geltung bringt, führten zu einem kleinen Skandal und zerstörten seine Karriere. So wie Val Guest oder ­Terence Fisher stehen Guillermin und Rilla hier für eine ganze Schar von Genre-Profis mit Auteur-Ambitionen, deren stilbewusstes Schaf­fen ein starker Pfeiler für die GB-Kinoherrlichkeit dieser Ära war.
 
Kaum einer von ihnen schaffte den Sprung zur Prestigeproduk­tion, denn das amerikanische Geld – die Investitionen der Hollywood-Majors, die den britischen Kinotraum mit ermöglicht hatten – verschwand Ende der 60er Jahre ebenso schnell, wie es gekommen war. Die späten Jahre dieser Schau scheinen schon vorauszuahnen, was die Sex Pistols im Mai 1977 zum Besten geben sollten: „There is no future / in England’s dreaming“. Über ihnen hängt wie ein Ausrufezeichen der grausamste aller ’68er-Filme, inszeniert von einem der Verzweifeltsten des Weltkinos: Lindsay Andersons if.... Malcolm McDowell ist das Antlitz dieses Augenblicks, und drei Jahre später kehrt es wieder, zynisch gewendet: In A Clockwork Orange erzählt es davon, wie rasch Aufbruch und „Revolte“ in ­Repression und „Backlash“ umschlagen können.
 
Die Schau enthält zahlreiche österreichische Erstaufführungen, darunter die neue Fassung von Peter Whiteheads legendärem Rolling-Stones-Porträt Charlie is My Darling Ireland 1965 (1965/2012). An vier Freitagen stehen Double Features auf dem Programm, und am 21.2. präsentiert der britische Filmkritiker und -kurator Neil Young einen Vortrag zum Thema. Die Retrospektive findet in Kooperation mit dem British Film Institute statt und wird unterstützt von der ­Britischen Botschaft in Österreich.
Zusätzliche Materialien