Once Upon a Time in the West / C'era una volta il West, 1968, Sergio Leone

Henry Fonda for President

30. August bis 11. Oktober 2017

Er hatte etwas, das weit hinaus schoss über die filmischen Fiktionen, denen er diente. Als er starb, bezeichneten ihn viele Nachrufe als den größten Schauspieler des klassischen Hollywoodkinos. Aber sein Talent in diesem Metier erklärt noch nicht die besondere Wirkung, die er bis heute im amerikanischen Imaginären entfaltet. Auch sein Ruf als sozialkritisches "Gewissen der USA", meist verknüpft mit der Rolle des Tom Joad in The Grapes of Wrath, ist nur ein Teilaspekt. Für das Klischee vom guten Liberalen – der skeptische Geschworene in 12 Angry Men – ist seine dunkle Seite, seine Neigung zum Zorn und zur Depression viel zu ausgeprägt. Der Konflikt mit seinen Teilzeit-Rebellenkindern, Jane und Peter, macht die Sache noch schillernder. Vielleicht entspricht Henry Fondas Rolle in der Geschichte eher der eines Schriftstellers, wie sein Biograf Devin McKinney andeutet. Vielleicht war dies sein Motiv: "to step into the American Story, to embody its tragedy and its memory."

Henry Fonda (1905–1982) stammte aus dem Mittelwesten: Omaha, Nebraska – fly-over country sozusagen. Männer vom Land – oder solche, die auch im Fall erfolgreicher "Urbanisierung" eine gewisse Fremdheit und Renitenz bewahren – spielte er oft, nicht nur in seinen Westernrollen für John Ford, Anthony Mann oder Sergio Leone. Seine Stimme, sein Gang sind unnachahmlich – und zugleich Produkte dieser Herkunft. Als The Magnificent Dope (1942) macht er aus dem Landei-Motiv eine herrliche Screwball-Komödie, ein Spiegelbild seines stolpernd in Barbara Stanwyck verliebten Millionärs in Preston Sturges' The Lady Eve (1941). Fonda besaß hohe Glaubwürdigkeit sowohl als Tatmensch wie auch im Fach des Komisch-Romantischen. Doch zur Virilität und zur Verliebtheit kommt immer Nachdenklichkeit hinzu – und der Eindruck, dass Fondas eigene, biografische "Figur" (samt prägender Erfahrungen mit Lynchjustiz, Krieg und Suizid) in seinen unterschiedlichen Filmfiguren und -erzählungen stärker als üblich widerhallt.

Die heftigen amerikanischen Debatten über Kapitalismus und Demokratie in den 1930er Jahren geben Fonda und seinem Leinwand-Charakter die entscheidende Dynamik, gipfelnd in Fords grandioser Steinbeck-Verfilmung The Grapes of Wrath (1940). Diese Fonda-Persona ist durchaus widersprüchlich: ein Loner und Außenseiter, der aber ebenso oft (zum Teil im selben Film) ein besseres Gemeinwesen beschwört. Ein Mann der Popular Front und ein Young Mr. Lincoln (wieder für Ford), der das Recht als geschmeidige Waffe gegen die Mob-Justiz gebraucht und der Demokratie sogar etwas staksig Tänzerisches verleiht. Zugleich ein schuldig oder unschuldig Verfolgter, der von der "amerikanischen Nacht" erzählt: im Prä-Film-Noir europäischer Flüchtlinge (Fritz Langs You Only Live Once und John Brahms Let Us Live) und noch 20 Jahre später als The Wrong Man (1956) in einem von Alfred Hitchcocks größten Werken.

In beiden Schattierungen, als verzweifelter Outcast und als Vertreter einer gerechteren Zukunft, verkörpert er Kritik am alten Amerika. Und lädt damit auch jene Bürger/innen zur Identifikation ein, die mit den herrschenden Mächten nichts zu schaffen haben. Für den homosexuellen schwarzen Autor James Baldwin zum Beispiel besaß Fonda die Anmutung eines brother from another planet. Allein wie er als Tom Joad am Ende in die Bildtiefe verschwand: "White men don’t walk like that!"

Nach drei Jahren Kriegsdienst im Pazifik beginnt bei Fonda, wie im US-Kino insgesamt, eine Zeit der Selbstbefragung. Der Sieg, 1945, mündet zunächst nicht in Triumphalismus, bringt eher neue Spaltungen. Was Fonda über Tod und Gewalt dazugelernt hat, wird nur notdürftig von seiner emotionalen Reserviertheit verdeckt – als traumatisierter Heimkehrer in Otto Premingers Daisy Kenyon und in zwei weiteren Ford-Meisterwerken, My Darling Clementine und Fort Apache. (In Letzterem, in der Figur des rassistisch-autoritären Lt. Col. Thursday, ist die ganze "Mythopathie" Amerikas sichtbar, schreibt Michael Herr.) Dann legt er acht Jahre Kinopause ein. Sein Broadway-Comeback (Mister Roberts, ein Stück vom Krieg) wird zum phänomenalen Erfolg. Im April 1950, an ihrem 42. Geburtstag, begeht Fondas zweite Ehefrau Frances Selbstmord.

The Wrong Man, Anthony Manns The Tin Star und Sidney Lumets Debüt 12 Angry Men (ein Film, den Fonda selbst produziert) läuten 1957 seinen dritten Akt im Kino ein, der fast parallel zur Ära der Kennedys verläuft. Fonda ist jetzt über Fünfzig. Und er artikuliert seine Hoffnung auf ein Ende des McCarthy- bzw. "Young Mr. Nixon"-Klimas nicht nur durch die Unterstützung liberaler Kandidaten in der Realpolitik, sondern auch durch seine Beteiligung am kurzen Politkino-Frühling in Hollywood: Filme, die inmitten des Kalten Kriegs die Gegenwart und Zukunft der Republik und ihrer Politikerkaste verhandeln. Deren hohe Ambitionen und fatale Lügen porträtiert Fonda präzise in Advise & Consent und The Best Man, bevor er 1964 in Fail-Safe, Lumets brillantem Thriller-Pendant zu Dr. Strangelove, die Rolle des amtierenden Präsidenten übernimmt. Die Situation – ein nuklearer Weltkrieg beginnt – ist gespenstisch, weil sie sich nicht wie Science-Fiction anfühlt. Dieser Präsident, der das Versprechen des jungen Lincoln ebenso in sich trägt wie die Früchte des Zorns, ist nun Manager der Verdammnis: "What do we say to the dead?"

Die Stille, die ihn umgab, und seine oft beschworene "Einfachheit", das seien nur Hilfsbegriffe, schreibt Devin McKinney. Gemeint sei etwas Anderes, das bei Fonda anwesend ist, das man fühlen, aber kaum sehen kann. Dieses Andere gibt McKinneys Buch den Titel: The Man Who Saw a Ghost. Es ist schon früh in Fondas Blick: die Erinnerung an die Toten, der Zweifel, die Angst, das Verborgene, das sich nur ganz selten berührt mit dem kontrolliert Sichtbaren. An dieser Stelle sehen dann auch wir die Geister. Und tun es noch am Ende von Once Upon a Time in the West, Fondas ganz persönlichem "68er-Film", in dem er die dunkle Seite auslotet wie nie zuvor: "Für Sergio Leone habe ich Dinge getan, vor denen ich einst zurückgeschreckt wäre."

In seinem letzten Jahrzehnt ist er Amerikas Sinnbild für den Präsidenten, den es nie gab. "Such fuckin' lies..." murmelt er über Richard Nixon in seinem letzten Interview, und bei den Reden des Ex-Kollegen Ronald Reagan "möchte ich kotzen". In der TV-Sitcom Maude gastiert er 1976 as himself. Die engagierte Hausfrau Maude hat nämlich eine Wahlkampagne begonnen, ohne ihn vorher zu fragen: "Henry Fonda for President." Er lehnt rundheraus ab, er habe weder Lust auf die Politik noch das Talent dazu: "I'm an actor!" Der Akteur Henry Fonda wurde also nicht Präsident, dafür aber zu einem großen Erzähler des amerikanischen Jahrhunderts. So wie umgekehrt Barack Obama, im Grunde ein geborener Autor, wider alle Wahrscheinlichkeit Präsident geworden ist – dank seines Zusatztalents als Akteur in der Tradition von Henry Fonda. Der Schlaf dieser Tradition gebiert Monster.