Zahlreiche Bücher in Amos Vogels Privatbibliothek sind mit Annotaten, Kommentaren und Randnotizen versehen, in denen Vogel in einen intensiven Austausch mit Texten und Autor*innen tritt. Der interessierte Leser annotiert skeptisch, kritisch oder begeistert, in seinen Notizen befürwortet oder verwirft er leidenschaftlich, in seinen Glossen kritisiert er scharf oder weist entschieden zurück; die entsprechenden Fließtexte sind dick unterstrichen oder durchgestrichen, eingekreist, hervorgehoben oder mit Markierungen versehen.
In seinen Annotaten zeigt sich ein besonderes Interesse für das Leben und Werk von Sigmund Freud, und dieses Interesse nehmen wir hier zum Ausgangspunkt für eine kleine Fallstudie im Hinblick auf die kommentierte Lektüre des subversiven Kurators. Sehen wir dafür zunächst die quantifizierbare Dimension seines Interesses an Freud: Eine Schlagwortsuche ergibt 310 Bücher in der Amos Vogel Library, die den Wissensbereichen Psychoanalyse, Psychologie oder Psychiatrie zuzuordnen sind. Davon sind rund die Hälfte, genau genommen 153 Bücher kommentiert, und von diesen Texten weisen 65 einen expliziten Bezug zu Sigmund Freud auf, sei es nun in seiner Funktion als Autor, Mitautor oder als wesentliche Referenzperson. In 39 dieser Bücher finden sich handschriftliche Kommentare Vogels, und damit stehen unserer Fallstudie rund 12% der psychoanalytischen Publikationen in der Amos Vogel Library zur Verfügung.
Abb. 1: Sigmund Freud, Selbstdarstellung. Vogels Unterstreichungen u.a.: "Vor allem traf mich die Zumutung, daß ich mich als minderwertig und nicht volkszugehörig fühlen sollte, weil ich Jude war. [...] Eine gewisse Unabhängigkeit des Urteils wurde so vorbereitet."
Es liegt auf der Hand, dass die jüdische Herkunft und das erzwungene Exil zwei bedeutende Parallelen im Leben der beiden gebürtigen Wiener ausmachen, aber in Vogels kommentierter Lektüre finden sich auch Hinweise auf darüber hinaus gehende Übereinstimmungen. So legt Vogel etwa in Peter Gays Studie über Freuds Atheismus und den Beginn der Psychoanalyse seinen Nachdruck auf diese Beobachtung:
"Als Fremder im Glauben seiner Väter und wenig willkommen in der Kultur, die ihn umgab, fühlte er sich doppelt fremd und sah sich als Randständiger. Dies, so war Freud überzeugt, hatte ihm einen unschätzbaren Vorteil verschafft." (Gay 1987:136).
Vogel kommentiert die hervorgehobene Passage mit dem Hinweis, dass "Außenseiter sein" durchaus ein "Vorteil" darstellen könne.
Abb. 2: Annotation in Peter Gay, A Godless Jew
Amos Vogel hatte sich auch in seinem New Yorker Exil als Außenseiter wahrgenommen, und das nicht zuletzt deshalb, weil ihm die Nazis seiner Muttersprache beraubt hatten, wie er es etwa 2001 in Egon Humers Dokumentation Mosaik im Vertrauen eindringlich formulierte. Vor diesem Hintergrund lässt sich Vogels Beschäftigung mit Freud auch als eine lebenslange Anstrengung begreifen, die darin bestanden haben mag, die Erinnerung an die gestohlene Sprache wach zu halten, um sich an die in ihr geborgenen Bilder und Denkfiguren zu erinnern. Dieses Anliegen spiegelt sich auch in der quantitativen Zusammensetzung seiner Bibliothek, die zwar mit rund 85% aller Bücher und Texte zum überwiegenden Teil aus englischsprachigen Publikationen besteht, in der sich aber auch etwa 14% deutschsprachige Veröffentlichungen finden. Von den englischsprachigen Texten sind rund ein Drittel kommentiert und obwohl bei den Deutschsprachigen dieser Durchschnitt nur etwa bei einem Viertel liegt, so sind doch mehr als die Hälfte aller Publikationen aus dem Bereich der Psychoanalyse mit Hervorhebungen und Kommentaren versehen.
Abb. 3: Bücher, Sprachen und Annotate in der Amos Vogel Library
Die Lektüre von Bruno Bettelheims Studie Freud and Man's Soul legt die sachlichen Gründe für Vogels Bemühung um eine muttersprachliche Auseinandersetzung mit Freuds Überlegungen offen. Bettelheim analysiert die Bedeutungsverschiebungen, die er in den englischen Übersetzungen von Freuds Texten und Ideen feststellt, und sein kritischer Nachweis einer allgemeinen Tendenz zur Verengung und Spezialisierung der Freudschen Terminologie veranlassen Vogel zur wiederholten Kommentierung und Zustimmung. Bettelheims Analyse basiert auf der Untersuchung von Stracheys Standard Edition, von der er insgesamt feststellt:
"Die Übersetzungen in der Standard Edition sind zum größten Teil eine Verbesserung gegenüber den früheren Ausgaben – obwohl weiterhin viele Unzulänglichkeiten bestehen bleiben. [...] doch die überwältigende Mehrheit der Amerikaner, die Freud lesen, konsultieren nicht die Standard Edition, sondern eine Vielzahl von billigeren Ausgaben, die die vorhergehenden, minderwertigen Übersetzungen nachdrucken." (Bettelheim 1984:51)
Vogel markiert Bettelheims Aussage gleich mehrfach und notiert auf der gegenüberliegenden Seite ganz oben: "Hier beginnt der Irrtum." Er verbindet diese Feststellung mit Bettelheims Überlegung durch einen quer übers Blatt weisenden Pfeil und fügt erklärend hinzu: "Meine kleinen Freud-Bände beruhen auf den frühesten Übersetzungen, und nicht auf der besseren späteren Stand[ard] Edit[ion]."
Abb. 4: Annotation in Bruno Bettelheim, Freud and Man's Soul
Amos Vogel stellt alarmiert fest, dass seine bisherige Bekanntschaft mit Freud auf Übersetzungen beruht, die Bettelheim in Bausch und Bogen verworfen hatte, und als gewissenhafter Leser zieht er aus der neu gewonnenen Einsicht weit reichende Konsequenzen – nach seiner Begegnung mit der Bettelheimschen Übersetzungskritik hatte sich Vogel dazu entschlossen, die Schriften Freuds fortan nur mehr im deutschsprachigen Original zu erwerben und zu studieren. So rigoros Vogel in seiner erkenntniskritischen Schlussfolgerungen ist, so praktisch bleibt er in ihrer ökonomischen Umsetzung, denn er entscheidet sich bedenkenlos für möglichst preiswerte Exemplare, um keinerlei intellektuelle Abstriche machen zu müssen, und so finden sich denn auch die deutschsprachigen Texte Freuds in der Amos Vogel Library als kostengünstige Paperback-Ausgaben aus der Wissens-Reihe des Fischer Verlags. Vogel bleibt in seiner Liebe zu Büchern vorbehaltlos auf die Auseinandersetzung mit Ideen und Inhalten konzentriert, Bibliophilie im herkömmlichen Sinn, die auf die Sammlung gediegener und kostbarer Bücher gerichtet ist, musste ihm vermutlich als eine kultivierte Form der Eitelkeit erscheinen.
Abb. 5: Sigmund Freund, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Sein Entschluss, Freud in der ihm von den Nazis geraubten Muttersprache zu studieren, bringt auch eine Wiederbegegnung mit der eigenen Vergangenheit mit sich, die mitunter schlaglichtartig an unerwarteter Stelle aufblitzt. So findet sich etwa in Freuds Abhandlungen zur Sexualtheorie diese Überlegung zur sozialen Genese der Nervosität:
"Auch wird der Arzt häufig genug durch die Beobachtung nachdenklich gemacht, daß gerade die Nachkommen solcher Väter der Nervosität verfallen, die aus einfachen und gesunden ländlichen Verhältnissen stammend, Abkömmlinge roher aber kräftiger Familien, als Eroberer in die Großstadt kommen und ihre Kinder in einem kurzen Zeitraum auf ein kulturell hohes Niveau sich erheben lassen." (Freud 1976:121) In seiner deutschen Taschenbuchausgabe markiert Vogel Freuds Beobachtung und versieht sie mit der englischsprachigen Notiz, dass dieser Sachverhalt auch auf ihn selbst zutreffe.Abb. 6: Annotation in Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie
Dass sich die Lektüre in der entwendeten Muttersprache als herausfordernd darstellt, wird auch durch den Umstand deutlich, dass Vogel die deutschen Texte durchwegs auf englisch kommentiert. Außerdem konsultiert er den größten Teil der Sekundärliteratur in Englisch und liest dabei etwa Ernest Jones The Life and Work of Sigmund Freud in einer gekürzten Fassung, in der er eine Anekdote hervorhebt, die Jones aus der Jugendzeit Freuds wiedergibt.Es handelt sich dabei um einen antisemitischen Übergriff, dem sich Freuds Vater Jakob am Ende des 19. Jahrhunderts in Wien ausgesetzt sah. Jones schildert den Effekt, den die Begebenheit auf den Sohn ausgeübt haben soll, so:
"[...] sein Vater konnte den Platz, den er in seinem Ansehen innegehabt hatte, nach dieser schmerzlichen Begebenheit nie wieder zurückgewinnen, weil er seinem zwölfjährigen Jungen erzählte, wie ein Nichtjude seine neue Pelzmütze in den Schlamm gestoßen und ihn angeschrieen hatte: 'Jude, geh vom Bürgersteig runter.' Denn auf die Frage des empörten Jungen: 'Was hast du getan?' antwortete er ruhig: 'Ich bin in den Rinnstein getreten und habe meine Mütze aufgehoben.'" (Jones 1961:19)
Jones zufolge hatte dieser "Mangel an Heldentum" die Wertschätzung des jugendlichen Sigmund seinem Vater und "bisherigem Vorbild" gegenüber unwiederbringlich zerrüttet, aber Vogel hält der Anekdote seine eigene biographische Erinnerung entgegen: "Meinem Vater ist dasselbe passiert, aber ich habe kein Heldentum erwartet."
Amos Vogels Bemerkung bestätigt die Alltäglichkeit von antisemitischen Übergriffen im Wien des austrofaschistischen Ständestaates und lässt keinen Zweifel an seiner persönlichen Haltung aufkommen. Vogels Kommentare weisen ihn nicht nur als als Kritiker von Ideenwelten im Bücheruniversum aus, sie liefern auch Beweise dafür, dass er als Leser, Mensch und Zeitgenosse stets bereit war, jede Art von Idealisierung und Pathos subversiv zu unterlaufen.
Abb. 7: Annotation in Ernest Jones, The Life and Work of Sigmund Freud
Von Tom Waibel
Literatur:
Bruno Bettelheim, Freud and Man's Soul, New York: Vintage Books 1984.
Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt am Main: Fischer 1976.
Sigmund Freud, Selbstdarstellung. Schriften zur Geschichte der Psychoanalyse, Frankfurt am Main: Fischer 1973.
Peter Gay, A Godless Jew. Freud, Atheism, and the Making of Psychoanalysis, New Haven: Yale University Press 1987.
Egon Humer, Amos Vogel. Mosaik im Vertrauen, 2001, 58 min.
Ernest Jones, The Life and Work of Sigmund Freud, New York: Basic Books 1961.
James Strachey, The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, London 1953–1974.