Prince of the City, 1981, Sidney Lumet

Sidney Lumet

1. September bis 19. Oktober 2023

Mit Sidney Lumet (1924–2011) würdigen wir zum Saisonauftakt einen der herausragenden Filmemacher der USA. In dem halben Jahrhundert zwischen seinem gefeierten Kinoeinstand mit 12 Angry Men (1957) und dem Abschiedswerk Before the Devil Knows You're Dead (2007) hat Lumet über 40 Spielfilme inszeniert, darunter so berühmte Klassiker wie The Pawnbroker (1964), Serpico (1973), Murder on the Orient Express (1974), Dog Day Afternoon (1975), Network (1976), Prince of the City (1981), The Verdict (1982) oder Running on Empty (1989). Obwohl er damit auch zu den großen Hollywoodregisseuren zählt, blieb er sowohl zum Studiosystem wie dem Ort auf Distanz. Er wählte bevorzugt Stoffe, die in der Stadt spielen, in der er aufgewachsen und der er zeitlebens verbunden war: Wie kaum ein anderer hat Lumet das Bild von New York City in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts mitgeprägt und die pulsierende Energie und Diversität dieser Metropole eingefangen.
 
Lumets Eltern waren aus Polen eingewandert und etablierten sich in New Yorks jüdischer Theaterszene. Sidney selbst stand bereits als Kind auf der Bühne und gründete nach seinem Militärdienst im Zweiten Weltkrieg im Umfeld des berühmten Actors Studio einen Theaterworkshop. Seine eigene darstellerische Erfahrung und der daraus resultierende besondere Umgang mit Akteur*innen trug zweifellos dazu bei, dass er als einer der Schauspielregisseure schlechthin galt: Er führte Ingrid Bergman ebenso zum Oscar (für Murder on the Orient Express) wie Peter Finch und Faye Dunaway (beide für Network) und erarbeitete mit vielen Superstars Spitzenleistungen, darunter Henry Fonda (12 Angry Men und Fail-Safe, 1964), Anna Magnani und Marlon Brando (The Fugitive Kind, 1960), Al Pacino (Serpico und Dog Day Afternoon), Paul Newman (The Verdict) oder Sean Connery. Mit letzterem verband ihn eine besondere Beziehung, die in einem von Lumets unbekannten Meisterwerken kulminierte, dem britischen Polizeithriller The Offence (1973).
 
Aber auch bei allen anderen Departments stellte Lumet die Zusammenarbeit in den Vordergrund: Er verglich seine Arbeit mit dem Schaffen eines Mosaiks, bei dem jedes winzige Stück möglichst perfekt in das Gesamtbild passen sollte. Wie Arthur Penn oder John Frankenheimer gehörte er zur Generation von US-Kinomachern, die ihr Handwerk in den 1950ern unter den Extrembedingungen des Live-Fernsehens gelernt hatten. Diese Erfahrung ebnete Lumet nicht nur den Weg zur großen Leinwand, sondern prägte auch sein Selbstverständnis als Künstler: Die französische Autorentheorie hielt er für Nonsens, weil sie die wichtigen Beiträge der anderen Beteiligten ignorierte. Seinen Stil ordnete er stets dem Sujet unter, was zusammen mit seiner außergewöhnlichen Produktivität in einer erstaunlich vielfältigen Filmografie resultierte.
 
So lässt sich zum Beispiel kaum ein größerer Gegensatz denken als zwischen der fließenden Eleganz des All-Star-Ensemblestücks Murder on the Orient Express nach Agatha Christie, dessen historisches Flair Lumet durch verschwenderische Ausstattung und die bewusste Beschwörung von "romantischer Nostalgie" zum Leben erweckte, und dem kantigen Naturalismus von Dog Day Afternoon, für den Lumet im Folgejahr nach dem Stil einer Wochenschau strebte, um die wahre Geschichte eines knapp zurückliegenden sensationellen Banküberfalls möglichst lebensnah zu präsentieren – sogar das Ensemble war angehalten, ohne Make-up und in der eigenen Alltagskleidung zu erscheinen.
 
Aber bei aller stilistischen Wandlungsfähigkeit blieb sich Lumet inhaltlich treu: Thematisch zeigte er sich (ironischerweise, wenn man seine eigene Skepsis bedenkt) als auteur par excellence. Seine Filme sind Studien von Gruppendynamik, seine großen Themen waren das Gewissen und die Gerechtigkeit – die Justiz und der Polizeiapparat sind Konstanten in seinem Werk. Aber Lumet war nicht an einfachen Botschaften interessiert, sondern arbeitete darauf hin, das Publikum durch packende dramatische Konstruktionen zum tieferen Nachdenken zu bringen: Schon 12 Angry Men war wesentlich zwiespältiger als es sein Ruf als brillanter liberaler Vorzeigefilm suggeriert, bei seinem großen New-York-Epos Prince of the City (1981) mit Treat Williams als Polizist, der zum Spitzel wird, um die Korruption in den eigenen Reihen aufzudecken, war sich Lumet über sein Verhältnis zum Protagonisten unklar "bis ich den fertigen Film sah".
 
Es war dieser konstante Kampf in einem System, das korrumpiert und die Individualität unterdrückt, den Lumet auf unterschiedlichste Arten – und in allen Tonlagen vom apokalyptischen Drama bis zur leichten Komödie – schilderte. In Lumets mitreißenden Auseinandersetzungen mit der Frage der Verantwortung drückte sich zugleich seine eigene Individualität als Filmemacher aus, der dafür seine reichen Erfahrungen vom klassischen Theater bis zum stets allen technischen Innovationen aufgeschlossenen Profi-Handwerker kanalisierte. Als Lumet 2005 spät den Ehren-Oscar erhielt, schloss sich für ihn gerade ein Kreis: Die ökonomischen Vorteile der digitalen Technik erlaubten eine Rückkehr zu den Multi-Kamera-Methoden der frühen Fernsehjahre, womit er in TV und Kino erneut reüssierte. Unsere Auswahl erlaubt unter Berücksichtigung verfügbarer Filmkopien noch einmal die Auseinandersetzung mit einem amerikanischen Klassiker. (Christoph Huber)

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