Čelovek s kinoapparatom ist ohne Zweifel der berühmteste und formal vollendetste Film des russischen Regisseurs Dziga Vertov. Jahrelang sammelte er Material und verfasste Aufzeichnungen, bis er sich im Jahr 1929, sozusagen am Höhepunkt seiner künstlerischen Freiheit, an das Experiment wagte, einen Film gänzlich ohne Zwischentitel zu gestalten. Stattdessen wollte Vertov durch ein System an internen und externen Referenzen eine eigene Filmsprache schaffen, die die Zuschauer auf der ganzen Welt verstehen können. Schon im Vorspann wird ausdrücklich angeführt, wodurch sich dieses Werk von allen bisherigen unterscheidet: Ein Film ohne Hilfe von Zwischentiteln, Drehbuch oder Schauspieler und Bauten.
Der Mann mit der Kamera ist durchkomponiert, nichts geschieht zufällig. Der Regisseur führt uns durch einen Tag in der Großstadt und zwar aus der Sicht des Kameramanns, der das brodelnde Leben der Stadt dokumentiert. Chronologisch aufgebaut beginnt das Geschehen am frühen Morgen, die Stadt schläft noch und alles ist völlig ruhig. Langsam erwachen sowohl die Bewohner als auch die Verkehrsmittel, und die Maschinen in den Fabriken setzen sich in Bewegung und nehmen ihre Arbeit auf. In einem perfekt aufeinander abgestimmten Rhythmus wird die Arbeit und Produktion aufgenommen und vorangetrieben. Man geht dem Tagewerk nach und arbeitet fleißig in einer kollektiven Betriebsamkeit, bis schließlich die Sirenen der Fabriken das Ende des Arbeitstags ankündigen. Nun fließt die gleiche Energie ungehindert in die "erbauliche" Freizeitgestaltung. Die Werktätigen erholen sich am Schwarzen Meer, treiben Sport und amüsieren sich beim Schachspiel und Zeitunglesen in den Arbeiterklubs. Einige zweifelhaftere Subjekte jedoch besuchen Bierhallen und trinken Alkohol, was Vertov anklagend zur Schau stellt.
Der Prozess des Filmemachens wird während des ganzen Filmes "entzaubert", wenn die Zuschauer/innen beobachten können, wie die Aufnahmen gedreht werden und der Film dann im Schneideraum bearbeitet wird. Auch das Publikum nimmt an der Handlung teil, wir sehen neugierige Menschen beim Betreten eines Kinosaals, das erwartungsvoll auf den Dirigenten des Orchesters blickt. Und am Ende des Films kehren wir zu ihnen zurück, und beobachten sie, wie sie selbst Teil des Kunstwerks werden – nämlich beim Betrachten des fertigen Films auf der Leinwand.
Für das Schaffen einer fiktiven sowjetischen Großstadt, in der sich der Kameramann bewegt, drehte Vertov über mehrere Jahre hinweg an verschiedenen Stätten. Moskau, Kiew, Odessa und das Donbas-Gebiet, ein Kohleabbaugebiet in der Ukraine, werden filmisch zu einem einzigen Ort verschmolzen. Der Film war außerdem ein Familienunternehmen, wie übrigens andere Werke Vertovs auch. Die kinoki (Filmaugen), wie sich Vertovs Filmkollektiv nannte, kamen nicht nur hinter der Kamera zum Einsatz, sondern wir können sie auch als Protagonisten des Films bewundern. Vertovs Bruder und Kameramann, Michail Kaufman, ist als furchtloser und unermüdlicher "Mann mit der Kamera" unterwegs, der augenzwinkernd das "wahre sowjetische Leben" einfängt. Anschließend wird das Rohmaterial von der Ehefrau und engsten Mitarbeiterin des Regisseurs, Elizaveta Svilova, kunstfertig zu dem Meisterwerk montiert, als welches der Film ungebrochen seit seiner Entstehung international gefeiert wird.
Am 9. April 1929 führte man den Film zum ersten Mal in Moskau auf und zeigte ihn zwei Wochen lang in den Kinos, erst Monate nach dem allgemeinen Kinostart in Kiew am 8. Jänner 1929. Das russische Publikum reagierte sehr wohlwollend, obwohl der Verleih im Vorfeld mehr als skeptisch gewesen war. Die Kritiker hingegen waren zwiespältiger Ansicht, was den ideologischen Gehalt des Filmes betraf. Man verdächtigte Vertov technische Spielereien über die kommunistische Aussage zu stellen – was im Klima der Sowjetunion zu dieser Zeit lebensbedrohlich sein konnte. Auch in Deutschland war die linke Presse nicht ganz überzeugt, so kritisierte man beispielsweise in der "Roten Fahne", dass die Darstellung der Wirklichkeit leiden würde, da der Regisseur in einer Maschinenästhetik gefangen sei und sein Blick vor allem den künstlerischen Elementen gelte.
Vertov unternahm von Juni bis Dezember 1931 seine zweite (und letzte) Auslandsreise durch Europa, die ihn auf Einladung des lokalen und sehr rührigen Filmklubs "Filmliga" auch nach Amsterdam führte. Vertov brachte eine Kopie seines Films im Gepäck mit, die er der Filmliga nach der Vorstellung verkaufte, keine unübliche Praxis zur damaligen Zeit, da die sowjetischen Regisseure dazu angehalten waren, die Kosten ihrer Auslandsreisen mitzufinanzieren. Das ist auch der Grund dafür, dass sich in den Niederlanden eine 35mm-Kopie auf dem leicht brennbaren Nitratzellulose-Material (Nitrofilm) erhalten hat. Diese Filmkopie, die direkt vom Kamera-Negativ gezogen wurde und daher von außerordentlich guter fotografischer Qualität ist, bildete die Grundlage für die neue Restaurierung, die 2009/2010 vom EYE Film Institute Netherlands in Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Filmmuseum durchgeführt wurde.
Das Amsterdamer Material unterscheidet sich in Bezug auf das Bildformat maßgeblich von allen weiteren Kopien, die im Umlauf sind. In den 1950er Jahren, als man in den Archiven weltweit in großem Stil Stummfilme von Nitrofilm auf Sicherheitsfilm (Azetatfilm) umkopierte, war bereits seit mehr als 20 Jahren der Tonfilm der Standard in der Filmproduktion. Um Bild und Ton auf dem Filmstreifen zu vereinen, war dort am linken Rand Platz für eine Lichttonspur (also Ton als Bild) vorgesehen. Bei frühen Umkopierungen von Stummfilmen machte man nun nicht selten den bedauerlichen Fehler, dass in der Kopiermaschine ohne nachzudenken, das schmälere Kopierfenster für Tonfilme eingesetzt wurde. An dieser Stelle, wo die später zu kopierende Tonspur hinkommen sollte, war nur mehr Schwarz zu sehen. Auf diese Weise ging bei Stummfilmen ein Sechstel jedes Einzelbilds unwiederbringlich verloren, da die Nitrofilm-Originale aus Sicherheitsgründen nach der Umkopierung üblicherweise vernichtet wurden. Für lange Zeit war Der Mann mit der Kamera nur in einer "beschnittenen" Fassung bekannt, zum Glück ist aber die in den Niederlanden überlieferte Kopie unberührt in der originalen "Vollkaderversion" erhalten geblieben. Eine wichtige Szene fehlte jedoch in der Amsterdamer Kopie: Die Geburt eines Kindes, die die damalige niederländische Zensurbehörde als anstößig empfunden hatte. Für die Restaurierung wurde dieser Teil aus Material des Österreichischen Filmmuseums ergänzt. Alle zu verwendenden Materialien wurden hochauflösend digitalisiert und anschließend davon eine 35mm-Kopie hergestellt.
Ein weiterer Unterschied der restaurierten Fassung zu den bisher bekannten Kopien betrifft die Struktur der Filmhandlung. Der Regisseur teilte den Film in sechs Akte, die er mit animierten silbernen Nummern markierte. Am Beginn jedes Akts richtete sich die jeweilige Nummer mittels Filmtrick auf und klappte am Ende des Akts in umgekehrter Richtung wieder nach vorne zu. In ähnlicher Weise war der Schluss des Films gestaltet, wo das Wort "Ende" bewegt war. Diese Nummern waren im Lauf der Jahre aus den allermeisten Kopien entfernt worden, sodass die einzelnen Akte nahtlos ineinander übergingen. Diese Eingriffe sind je nach Filmkopie unterschiedlich stark, meist jedoch fehlen sämtliche auf- und absteigenden Nummern bis auf die aufsteigende "1". Die Gründe dafür sind vielfältig, zum Beispiel gehörte es mancherorts schlicht zur archivarischen Praxis, die ursprünglich 300 Meter langen Filmrollen (die den Akten entsprachen) in größere Einheiten von 600 Metern zusammenzufassen. Das sparte Filmdosen und Platz bei der Lagerung. Ein weiterer Grund lag darin, dass man Filme ca. ab den 1930er Jahren im Überblendbetrieb (also mit zwei Projektoren) vorführen konnte. Längere Rollen bedeuteten seltenere Wechsel der Filmspulen und somit weniger Arbeit für den Vorführer. Im Zuge der Restaurierung wurde die Urstruktur von Der Mann mit der Kamera wieder hergestellt und die animierten Aktnummern sowie der Endtitel rekonstruiert.
Dank einer Kombination von technischer Expertise und sorgfältiger historischer Recherche kann erstmals seit 1929 Vertovs avantgardistisches Meisterwerk wieder in seiner ursprünglichen Gestalt und Qualität bewundert werden.
Dr. Adelheid Heftberger, von 2006 bis 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kuratorin der Sammlung Dziga Vertov des Österreichischen Filmmuseums