Entgegen dem ersten Anschein ist Ansichtkarten [sic] aus Wien ein Film wie aus dem Lehrbuch, und zwar sowohl des Amateurfilms als auch der Filmwissenschaft: So gut es eben geht, versucht der Filmemacher, die Anregungen, Tipps und Tricks der einschlägigen Handbücher und Zeitschriften für Amateure zu befolgen. Das beginnt beim Titel, der mit einem relativ aufwändigen Legetrickverfahren hergestellt ist, setzt sich fort in der geografischen Verortung der Szenen durch Großaufnahmen von Straßenschildern und endet beim Versuch, den vermutlich bei Spaziergängen über Wochen oder Monate gesammelten Bildern mit dem Begriff der Ansichtskarte Ordnung und Struktur zu verleihen.
Freilich misslingt jedes einzelne Vorhaben ein wenig. Den Ansichtskarten im Titel fehlt das Fugen-s, einige Straßenschilder sind unscharf, und Auswahl sowie Abfolge der Motive geben die intendierte Bedeutung nicht mehr heraus: Was steckt hinter der Aneinanderreihung gesichtsloser Straßenzüge und anerkannter Wiener Sehenswürdigkeiten wie Westbahnhof oder Stadthalle? Haben wir es mit einer bloßen Feststellung, mit Kritik oder mit der Behauptung von Gleichwertigkeit zu tun?
Dass jedes einzelne Vorhaben bis zu einem gewissen Grad scheitert, bestätigt umgekehrt die Lehrbuchmeinung der Filmwissenschaft. Roger Odin, einer ihrer maßgeblichen Vertreter, wollte bereits Ende der 1970er-Jahre in den "Figuren des Missratens" das zentrale ästhetische Merkmal des Amateurfilms erkennen.
Odin zufolge zeichnet die Mehrheit der Amateurfilme fehlende narrative Geschlossenheit, fragmentarischer Charakter, ungewisse Zeitorganisation und Willkürlichkeit der räumlichen Beziehungen aus. Problemlos lassen sich diese Figuren des Missratens im Ansichtskartenfilm wiederfinden. Verstellt wird damit allerdings das weniger Offensichtliche, das Irritationspotenzial, das von Amateurfilmen ausgeht. Im vorliegenden Fall: die nicht von der Hand zu weisende Möglichkeit, dass der Filmemacher den Anblick der Meidlinger Hauptstraße als etwas empfand, das wert ist, als Ansichtskarte verewigt zu werden.
Vrääth Öhner
Erstmals veröffentlicht auf derStandard.at am 7.7.2014