Die Rückseite des Films

Plötzlich bewegten sich die Bilder: Lebende Skulpturen aus dem Jahr 1910


Meissner Porzellan! Lebende Skulpturen der Diodattis im Berliner Wintergarten dokumentiert und bewirbt die Aufführung von lebenden Skulpturen auf der im Untertitel genannten Varietébühne. Im Zuge der Sicherung des noch erhaltenen einminütigen Fragments im Filmmuseum wurde es vom leicht brennbaren Nitrofilm auf Sicherheitsfilm umkopiert und die für die Stummfilmzeit übliche monochromatische Farbstimmung des Originals nachgebildet.
 

Um das Jahr 1910 von der deutschen Niederlassung der französischen Produktionsfirma Gaumont hergestellt, lief der ursprünglich vierminütige Film in den damaligen Ladenkinos – als Teil gemischter, abwechslungsreicher Programme, neben dokumentarischen "Aktualitäten", Kurzkomödien und anderen fiktionalen Formaten wie den Trickfilmen des Illusionisten Georges Méliès und der Firma Pathé.

Das Repertoire handgefertigter Porzellanfiguren der Dresdner Manufaktur Meissen wird hier in inszenierte Tableaux vivants übertragen. Derartige "lebende Bilder" waren fixer Programmpunkt in der Varieté-Unterhaltung der Zeit. Die Attraktion solcher Aufführungen basierte wie auch in diesem Film zunächst auf der bestmöglichen Illusion von Stillstand: In Kostümen aus der Barockzeit erstarren sechs unterschiedliche Ensembles jeweils einige Sekunden lang, bis sie sich in verbeugender Geste aus ihrer körperlichen Anspannung lösen.


Film ist Bewegtbild – allerdings auf der Grundlage unbewegter Fotografien, die in Serie auf dem Filmstreifen festgehalten sind. Meissner Porzellan! demonstriert dieses Paradox in einer Art Umkehrung. Inszeniert wird hier das Gegenteil von Bewegung – der Stillstand. Aber das Medium Film macht jede noch so minimale Bewegung der Körper sichtbar, deutlicher jedenfalls, als es auf der Varieté-Bühne der Fall war. Dieses Fragment beruht also auf einer mehrfachen medialen Konfrontation: Fotografie versus Film, Standbild versus Bewegtbild. Sie sehen einander zum Verwechseln ähnlich und könnten doch nicht unterschiedlicher sein.

In einer Zeit, in der die Bilder noch laufen lernten, wurde das Kinopublikum mit Meissner Porzellan! durch die Illusion der stillstehenden Fotografie an die Bewegung des Films herangeführt – und fast nebenbei, so scheint es, konnte die Firma Meissen auch noch die eigene Produktpalette präsentieren.

Lydia Nsiah
Erstmals veröffentlicht auf derStandard.at am 9.3.2015

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