Die Rückseite des Films

Landkarte der Emotionen: Wie Filmamateure den Raum markieren

 

Landkarten sind in Spiel-, Dokumentar- und Lehrfilmen omnipräsent. Sie lauern im Hintergrund an den Wänden oder stehen als Globen im Mittelpunkt des Interesses, antizipieren in Kriegsfilmen die Schlachten, werden gestohlen und gesucht, wenn sie auf einen Schatz hinweisen. Sie erklären und sind zugleich mysteriös. Sie deuten nur an, zeigen nicht alles.
 

In Familienfilmen dienen sie als Hilfe, als aide mémoire der Sommerurlaube, der Wanderungen, manchmal auch der Wallfahrten. Ein fast ungeschriebenes Gesetz der Amateurkartographie lautet: Man beginnt immer zu Hause und bewegt sich in die weite Welt hinaus. Der Rückweg wird auf den Landkarten seltener gezeigt, vielleicht weil sein Ziel selbstverständlich ist.
 

Ein Stift streicht über eine Landkarte Jugoslawiens. Der Sommerurlaub nähert sich und viele Österreicher wählen die Küste Dalmatiens als Destination. In den 1980er-Jahren waren der Fall des Eisernen Vorhangs und die Zersplitterung des Landes noch kaum vorstellbar.
 

Szenenwechsel. Österreich 1938: Auf der Leinwand verbindet eine Linie einige österreichische Städte zu einer Route. Wiener Neustadt, Neunkirchen, Semmering, weiters Mürzzuschlag, Mürzsteg, über Frein im Schneesturm, dann Halltal. Das Ziel ist Mariazell. Auf dieser Landkarte mischen sich topographische und meteorologische Markierungen, der Schneesturm bereichert die Aufzeichnung klimatisch.

 

Diese zwei Landkartenszenen stammen aus Amateur- und Familienfilmen, die dem Österreichischen Filmmuseum anvertraut wurden (wir bedanken uns besonders bei Frau Karin Mick). Die Filmamateure haben die Landkarte oft als Einleitung für ihre Filme verwendet, sie kann aber auch als Leitfaden zwischen den verschiedenen Szenen fungieren. In jedem Fall ist der Finger auf der Landkarte eine einfache und wirkungsvolle Erzählstrategie: motion pictures werden zu emotion pictures. Aus der Landkarte wird ein persönliches Erinnerungspapier, das auf das Erlebte verweist. Und für jene Betrachter, die nicht zur Familie gehören, wird sie zur Wanderkarte, die es ermöglicht, sich in den Erinnerungen anderer Menschen zurechtzufinden.

Paolo Caneppele
Erstmals veröffentlicht auf derStandard.at am 22.6.2015

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