Stadtfilme

Wien, 1938: Fahnenwälder zu Ehren des "Führers"


Vor rund 20 Jahren wurden dem Österreichischen Filmmuseum zwei Rollen Amateurfilm übergeben. Inhalt, Hersteller und Überlieferung unbekannt, wie oft bei Schenkungen. Erste Sichtungen brachten ein überraschendes Ergebnis: Eine der Rollen enthält Aufnahmen aus Wien zwischen dem 12. März und 1. Mai 1938 (Einmarsch – "Volksabstimmung" – Maifeiern). Sie setzen sich durch penibel gesuchte Systematik, konterkariert durch Momentaufnahmen des Alltagstreibens von den bekannten Propagandafilmen ab. Der Techniker, den wir hinter der Kamera vermuten, dokumentiert mit Leidenschaft himmelwärts ragende Aufbauten und Fahnenwälder; als Lehrer an einer Fortbildungsschule (die zweite begründete Vermutung) hält er unter anderem bizarre Gymnastikübungen der Schuljugend zu Ehren des "Führers" fest.
 

Der Film wurde gedreht auf 9,5 mm, einem sehr gängigen Schmalfilmformat, entwickelt von der französischen Firma Pathé, und ist 72 Meter lang. Der gar nicht so lange Film weist mehr als fünfzig (!) Klebestellen auf. Man kann thematische Blöcke isolieren, doch keine chronologische Ordnung ausmachen. Viele kurze zusammengeklebte Filmstreifen bilden ein visuelles Scrapbook der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Wo es im Film einen Schnitt gibt, kann es bedeuten, dass etwas zusammengebunden wurde. Aber auch, dass etwas entfernt worden sein könnte. Was wurde von diesem anonymen Amateur als nicht zeigbar eingestuft? So viele Schnitte markieren vielleicht eine gestalterische Überforderung vor der delirierenden Realität jener Tage.


Paolo Caneppele & Siegfried Mattl (1954–2015)
Erstmals veröffentlicht auf derStandard.at am 31.3.2014
 

Details zu den Schauplätzen und allgemeine Informationen zum Film auf stadtfilm-wien.at


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